MUSTANG 2006 - EINE ZEHNTÄGIGE REISE
Vor zwei Jahren, als wir in Kagbeni standen und uns über die gelungene Überquerung des Thorung La freuten, war die Sehnsucht, die das vor uns liegende Tal in uns auslöste, die Geburtsstunde unserer zweiten Nepal-Trekkingtour. Mustang, das verbotene Land. Legende. Mythos. Zu dritt starteten wir in Begleitung unserer achtköpfigen Mannschaft im September 2006 voller Hoffnung all das, was man in Büchern und Internet erfährt, zu finden und vielleicht noch etwas mehr.
Panoramablick – Kali Gandaki, Kagbeni in Richtung Mustang
Zehn Tage lang sollten wir durch das Königreich wandern. Es stellte sich doch schon am zweiten Tag heraus, dass es kein einfaches Lustwandeln werden würde. Nach der ersten Übernachtung und dem einfachen Weg am Kali Gandaki entlang von Kagbeni bis Chele, wurde es ernst. Die 7½ Stunden Weg bis nach Gheling mit den unzähligen Aufs und Ab zehrten an unseren Kräften.
Dabei war nicht die erreichte Höhe von 3570 m maßgeblich, sondern die überwundenen und tatsächlich geleisteten Höhenmeter (geschätzt 1500 m). Es sollte auch für fast alle weiteren Etappen so bleiben. Im Rückblick staunen wir über mehrere tausend gelaufene Höhenmeter. Weitere Etappen im Tagesrhythmus auf unserem Weg waren Tsarang, Lo Mantang, Surkhang, Tangge, Paha, Tetang und Muktinath.
Der Weg hinaufbis Lo Mantang rechts vom Kail Gandaki stimmt mit der Hauptwanderroute überein. Er führt über viele kleine Ortschaften, ist mit steilen Überquerungen von Bächen und Schluchten gespickt, jedoch verläuft er auf mäßiger Höhe. In diesen Regionen fühlt man sich noch nicht von der restlichen Welt ganz abgenabelt. Die Landschaft ist majestätisch. Je höher man kommt umso karger werden die Berge und präsentieren sich in allen nur erdenklichen Farbschattierungen. Nach einem etwa 8 km langsam aufsteigenden Weg steht man plötzlich auf dem Lo La in 3850 m Höhe und bekommt die gesamte Hochebene, in der Lo Mantang eingebettet ist, zu sehen. Einfach sprachlos schaut man in das „Versprochene Land". Großartig. Überwältigend. Am Horizont die Grenze zu Tibet.
Den Abend und einen ganzen Tag verbringen wir in Lo Mantang. Besichtigen Klöster, die verwinkelten Gassen und die Felder. Es ist gerade Erntezeit und viele Menschen gehen fröhlich ihrer Arbeit nach, nicht alleine, sondern in Gruppen. Ist es Nachbarschaftshilfe, oder handelt es sich um Sippen, die singend und lachend die Ernte einholen? Wir sitzen auf einem kleinen Hügel mitten zwischen den Feldern und haben das unbestimmte Gefühl uns am Eingang des Paradieses zu befinden.
Chörten bei Tsarang
Panoramablick – Hochebene von Lo Mantang, am Horizont Tibet
Den Rückweg bestimmen wir gegen den Willen unseres Guides, nämlich links des Kali Gandaki. Das bedeutet längere Tagesmärsche und höher gelegene Wege, die nicht stark frequentiert werden. Rückblickend haben alle festgestellt, dass diese Route und die Strapazen ein echter Höhepunkt waren.
Erst hier in aller Einsamkeit breitete sich, um die 4000 m Höhe wandernd, die ganze Schönheit der unendlich erscheinenden Landschaft vor uns aus. Jetzt mehr denn je bedauerten wir die recht kurz bemessene Verweildauer in Mustang. Wie gerne hätten wir hier noch ein paar Tage verbracht. Die Dörfer auf unserem Weg ließen uns in unsere Vergangenheit schauen. So ähnlich muss es wohl vor zwei- oder dreihundert Jahren in Europa ausgesehen haben.
Wehmütig und doch etwas übermütig beschlossen wir eine Etappe im Flussbett des Kail Gandaki von Surkhang nach Tangge zurück zu legen. Unser „River-Crossing-Day", wie wir den 9½ Stunden langen Trekkingtag mit mehreren Flussdurchquerungen halb nackt durch das eiskalte Wasser, liebevoll genannt haben. Trotz geschundener Füße, trotz unfreiwilligen Badengehens und des Verlustes unseres Zuckervorrates im Kali Gandaki, stellten wir alle ausnahmslos schon am Abend fest: Das wird das unvergessliche Erlebnis der Reise sein. Danach ging es auf dem Gradweg in rund 3900 m Höhe in Richtung Tetang mit einer Übernachtung über 4000 m Höhe in Paha. Von Tetang aus ging es über einen letzten viertausender Pass nach Muktinath.
Surkhang, Tangge und Tetang haben uns besonders in ihren Bann gezogen. Eine magische Anziehungskraft geht von diesen, von der restlichen Welt isolierten Dörfern, aus. Jedes ist einzigartig, und in jedem vermittelten uns die dort lebenden Menschen ihre tiefe Verbundenheit mit ihrem Land. Karg. Ruhig. Gewaltig. Leben heißt im Einklang mit der Natur den Tag, die Woche, das Jahr zu gestalten. Entbehrungen. Ohne medizinische Versorgung. Mittelalter. Was hält diese wenigen Menschen dort? Freiheit? Glaube? Gewohnheit? Wir bedauern zutiefst ihrer Sprache nicht mächtig zu sein. Freundliche Gesten, unverstandene Worte und neugierige Blicke begleiten uns auf unserem Weg. Der schale Geschmack in unseren Mündern bestätigt unseren Verdacht, etwas Wesentliches aufgespürt es aber nicht genau erfasst zu haben. Auf den hoch oben liegenden Pfaden, die wir auf dem Rückweg links des Kali Gandaki durchlaufen, tröstet uns die Weite der gewaltigen Landschaft.
Zehn unvergessliche Tage Mustang gehören nun der Vergangenheit an. Schweren Herzens, da wir einen Teil unserer Seele an Nepal verloren haben, blickten wir auf dem Rückweg noch einmal aus der Ferne über Kagbeni in das Tal hinauf: Mustang, am Eingang zum Paradies gelegen. Wie lange noch?
Tetang am Nachmittag
Im Oktober 2006
Alex und Ursula von Bohlen