TAGEBUCH ANNAPURNA
Dieses, meiner Meinung nach Pulitzerpreis verdächtige Tagebuch, habt ihr Thomas Junker, einem Teilnehmer an der Annapurna Tour im März 03 zu verdanken. Genießt die tiefen Einblicke in sein Gedankengut während der Zeit in Nepal. Viel Spaß beim Lesen.
Montag, 24.03.03
Um 06.30 Uhr - viel zu früh – verabschiede ich mich endgültig aus dem Reich der Träume. Eigentlich wollte ich ausschlafen, Kraft tanken für die kommenden Tage. Hinter mir liegen hektische Brandermittlungen und endlose Vernehmungen. Auch heute Morgen grinsen mich die verschrobenen Gesichter arabischer Brandstifter an. Dieses Puzzlespiel um das Feuer in einer Asylunterkunft hat mich in den letzten Wochen fast rund um die Uhr beschäftigt. Eigentlich sollte ich mit meinen Gedanken längst in Nepal sein. Fühle mich ausgelaugt und suche meine letzten Utensilien zusammen. Im Radio diskutieren ausgemusterte Militärs über den Sinn des Irak-Krieges. Die ‚Koalition der Willigen' klagt über die ersten Verluste und der Traum vom Blitzkrieg scheint ausgeträumt. Auch der Jubel der ‚befreiten Iraker' hält sich in Grenzen. Ich kann diese verlogenen Meldungen nicht mehr hören und freue mich auf eine Auszeit im Himalaja. Moni hat sich heute frei genommen und wir fahren nach einem ausgedehnten Frühstück nach Augsburg. In der City Galerie gibt's eine letzte Bratwurst und ich fürchte mich vor den Gerichten der reisverliebten Asiaten. Am frühen Nachmittag rollen wir zwei schwere Koffer über den Besucherparkplatz des FJS-Flughafens. Eine Station S-Bahn und dann der lange Marsch durch die Flughallen zur Gepäckaufgabe im ‚Gate D'. Hier prallen wir ungebremst gegen den Bürokratismus der KLM Airlines. 20 Kilo Gepäck sind erlaubt. Für jedes weitere Kilo fordern diese Halsabschneider 15 Euro. Meine beiden Koffer wiegen zusammen fast 40 Kilo. Hefte, Stifte und bunte Kindersocken sollten eigentliche an nepalesische Schulkinder verteilt werden. Das war's dann. Unser kleines Hilfsprojekt wird bereits in Bayern gestoppt. Um 15.45 Uhr tritt Moni mit einem Koffer den Heimweg an. Im Wartesaal D 15 treffe ich auf eine nervöse Christine. Sie versucht ihre letzten SMS auf den Weg zu bringen und hört mir nur mit halbem Ohr zu.
Zwischen Irak-Konflikt und einer Virus-Erkrankung hat sie die Entscheidung für ihre Teilnahme erst in letzter Minute getroffen. Um 16.15 Uhr rollt der kleine Vogel zur Startbahn. Neben mir sitzt ein gestresster Banker im beigen Anzug. Trotz der stickigen Luft denkt er nicht daran den Knoten seiner farblosen Krawatte zu lockern. Wir heben ab, es geht los. Nach ungefähr 75 Minuten steigen wir in Amsterdam aus. Wieder irren wir durch endlose Flughallen, versuchen uns in diesem Meer von Hinweistafeln zurechtzufinden. In einem kleinen Wartesaal treffen wir auf den Rest der bunten Truppe. Die zwei Junggesellen Rally und Tommy aus Wuppertal, der erfahrene Tourengänger Herbert aus Nürnberg, die Hochschulabsolventen Mike und Stephanie aus Stuttgart, die Fremdsprachenkorrespondentin Barbara aus Tübingen, der indische Computerspezialist Vijay aus Erlangen und Michael, ein Schreinermeister aus der Pfalz. Die meisten tragen bereits Trekkinghosen und Bergschuhe. Gemeinsam stiefeln wir durch die letzte Schleuse und verteilen uns in einer Boing 757. Gott sei Dank ist die Maschine nicht voll besetzt. So kann ich mich auf einem 3er Sessel breit machen. Die blondierten Stewardessen in ihrer froschgrünen Uniform bemühen sich redlich. Nach den üblichen Einweisungen verteilen sie ‚headphones' für 5,50 €. Nachdem es hier aber keinen deutschsprachigen Kanal gibt, verzichte ich auf diesen fragwürdigen Service und spare mir das Geld.
Die ungewürzten Mahlzeiten sind nicht gerade der Bringer. Nur mit viel Phantasie kann man den Fisch vom Fleisch unterscheiden. Mit dem Blick auf den tonlosen Bildschirm versuche ich mich vergeblich zu betäuben. Es gibt keine Nachrichten, dafür aber jede Menge Werbung für die KLM-Airlines und dazwischen billige amerikanische Komödien. Egal, meine Gedanken sind eh woanders. Nach einer Zwischenlandung in Sharja (Vereinigten Arabischen Emirate) erreichen wir bald die östlichen Ausläufer des Himalajas in Pakistan. Das Dach der Welt schwebt über den Wolken, zum Greifen nah und doch unerreichbar. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Kurz vor 12 Uhr steuern wir die holprige Landebahn des vergleichsweise kleinen Tribhuvan International Airports von Kathmandu an.
Dienstag, 25.03.03
Nach einer zügigen Passkontrolle übernehmen wir unser Gepäck. Am Ausgang erwartet uns ein gut gelaunter Maikel, der jeden einzelnen mit Vornamen begrüßt. Auf der Ladefläche eines Geländewagens erschlagen mich die ersten Eindrücke. Diese Stadt scheint aus allen Nähten zu platzen. Wie in einem überdimensionalen Ameisenhaufen pulsiert hier das Leben. Autofahrer hupen um die Wette, Fußgänger springen zur Seite, und schwitzende Rikschapiloten strampeln, wühlen sich durch die engen Gassen dieser Stadt. Nach einer knappen viertel Stunde erreichen wir das International Guest House in Thamel. Dunkle Wolken ziehen über Katmandu und es riecht nach Regen. Nach einem Begrüßungsdrink beziehen wir unsere Zimmer.
Durch die Fahrt neugierig geworden bummeln wir kurz darauf durch den von Touristen dominierten Stadtteil Thamel. Maikel zeigt uns eine günstige Wechselstube und versorgt uns mit den wichtigsten Medikamenten. Für 20 Rupien (Rs), das sind umgerechnet ungefähr 25 Cent, kaufe ich mir die ersten YAK-Cigarettes. Danach finde ich in einem Treckerladen eine günstige Trinkflasche und eine 5-Dioden-Stirnlampe, das absolute Luxusmodell für schlappe 2250 Rs. Nach den Pflichteinkäufen teilt sich die Gruppe auf. Zusammen mit Michael streife ich durch den Stadtteil Paknajolwestlich von Thamel. Hier gibt es keine Souvenirstände und die Straßen sind nur teilweise oder gar nicht gepflastert. Eine alte Frau schleppt einen riesigen Leinensack und scheint unter ihrer Last fast zusammenzubrechen. Überall spielen-de Kinder, die uns ohne Scheu begegnen. Einige stellen sich frech in den Weg und strecken ihre Hände aus.
Zum ersten Mal fallen mir die schnee-weißen Zähne in den lachenden Gesichtern dieser kleinen Dreckspatzen auf. Fast zwei Stunden streifen wir durch diesen Irrgarten Paknajol. Den ersten Tag beenden wir mit einem gemeinsamen Abendessen im lauschigen Innenhof des ‚Palmengartens'. Die Stimmung ist ausgelassen und Herbert erzählt von seinen früheren Bergtouren. Tommy plaudert aus dem Nähkästchen und Rally gibt seine trockenen Kommentare dazu. Maikel bereitet uns auf die Tour vor. Schon morgen werden wir mit einem Bus nach Besi Sahar fahren. Die Schätze Kathmandus lernen wir erst nach dem Treck kennen. Nach einem ‚Absacker' in der Cocktailbar ‚New Orleans' streichen wir um 21.30 Uhr endgültig die Segel.
Mittwoch, 26.03.03
Um 06.30 Uhr schrillt das Telefon - ‚ìt´s six o´clock mister' – ich schau mich im Zimmer um und sehe in die verschlafenen Augen von Michael. Er scheint sich auch noch nicht recht auszukennen. Wie in Trance beginne ich meine sieben Sachen einzupacken und eine halbe Stunde später fahren wir los. In dieser Stadt scheint es nur Frühaufsteher zu geben. Hier brodelt bereits das Leben und an allen Ecken steigen Rauchwolken in den Himmel. Viele Menschen hocken in ihrer typischen Haltung am Straßenrand und scheinen alle Zeit der Welt zu haben. Wie die Hühner auf der Stange beobachten sie das geschäftige Treiben der Händler und Taxifahrer. Auf einem unbefestigten Platz verschmelzen zahllose Busse zu einer abenteuerlichen Blechlawine.
Blind folgen wir unserem Guide, froh darüber den Weg nicht selbst finden zu müssen. Vor der Abreise gibt es noch einen heißen Milchtee (Chiya) für 10 Rupien. Die mageren Köche sind in ihrer verrauchten Teeküche kaum zu erkennen. Unsere Rucksäcke werden auf dem Dach verladen und schon schlängelt sich der Linienbus durch den morgendlichen Berufsverkehr. Wir fahren in den Nordosten, folgen dem Kathmandu-Tal, vorbei an verschlafenen Dörfern, Steinbrüchen und abenteuerlichen Ziegeleien. Überall herrscht ein geschäftiges Treiben. An Stelle moderner Maschinen arbeiten hier unzählige Menschen mit einfachen Werkzeugen. Liebevoll bemalte Brummis quälen sich mühsam über die bergigen Straßen. Diese bunte Blechschlange gleicht einem großen Wanderzirkus. Unser Busfahrer überholt abenteuerlich. Der Bus ist bis zum letzten Platz besetzt und ich mag erst gar nicht an einen Frontalzusammenstoß denken. Dummerweise hab ich mich für die hintere Sitzreihe entschieden. Dorthin drängen auch die letzten Passagiere und ich werde buchstäblich an die Wand gedrückt.
Dorje, unser kleiner Träger, warnt mich vor diesem ‚jumping seat'. Spätestens nach dem ersten Schlagloch beginne ich seine Anspielung zu verstehen. Mein junger Sitznachbar fragt mich in einem gebrochenen Englisch aus und bemüht sich meine Antworten zu verstehen. Auf halber Strecke halten wir unvermittelt an. Die Ursache ist ein kilometerlanger Stau vor einem Erdrutsch. Die Sonne brennt unbarmherzig nieder und wir braten im eigenen Saft. Die meisten Busse sind gna-denlos überfüllt und ich wun-dere mich über die Ruhe der Reisenden. Einige stehen auf der Moräne und beobachten das Fiasko. Die schweren Fahrzeuge ziehen tiefe Rillen in den Schlamm und drohen jeden Moment stecken zu bleiben. Nach zwei Stunden passieren wir die Engstelle und können die Reise zügig fortsetzen. Die Fahrt wird noch einmal wegen einer Reifenpanne unterbrochen und wir erreichen unser heutiges Ziel Besi Sahar (823 m) gegen 16.30 Uhr. Wieder ziehen dunkle Wolken auf und Maikel entscheidet nicht mehr aufzubrechen. Eine Stunde später prasseln dicke Regentropfen auf die staubigen Straßen. Bei einem kühlen Bier auf der Veranda vergessen wir die anstrengende Busfahrt. Später essen wir in dem schlichten Gastraum. Sonam unser nepalesischer Guide unterstützt das Küchenpersonal und serviert ein knuspriges Omelette. Kurz nach acht Uhr bin ich wieder bettreif. Michael schläft wie ein Stein und ich muss feststellen, dass er entgegen seiner Ankündigungen doch schnarcht. Ich drehe mich auf der hauchdünnen Schaumstoffunterlage von einer auf die andere Seite und suche lange vergebens nach Schlaf.
Donnerstag, 27.03.03
Es ist 7 Uhr und die ersten Sonnenstrahlen mogeln sich ins Zimmer. Die Regenwolken haben sich verzogen und der Himmel strahlt in einem kräftigen Blau. Im Nordosten streckt der Manaslu (8125 m) sein verschneites Haupt über den Horizont. Die Häuser von Besi Sahar wirken grau und schmucklos. Sie scheinen vergeblich auf den letzten Anstrich zu warten. Auf der holprigen Hauptstraße sind bereits die ersten Händler unterwegs. Unmittelbar hinter dem Hotel klammern sich ein paar armselige Blechhütten aneinander. Sie umschließen einen schattigen Innenhof, in dem ein kleines Feuer lodert. Eine grauhaarige Frau schleppt Wasser über den Hof und verschwindet gebückt unter einem Blechdach. Unglaublich, in diesen windschiefen Hühnerställen leben tatsächlich Menschen.
Auf dem Flachdach eines Wohnhauses, jenseits der Hütten, entdecke ich eine kleine Völkerwanderung. Wie die Ameisen steigen mindestens 20 Menschen über Baustahlmatten, Steine und Sandhäufen. Auf dieser Baustelle suche ich vergeblich nach einem Kran. Es gibt kein Förderband und auch keinen Bagger. Nein, hier arbeitet eine Maschine aus Fleisch und Blut. Zum Frühstück gibt's Milchkaffee, Eier und Fladenbrote (Chapati). Kurz nach 8.45 Uhr stehen wir aufgepackt vor dem Hotel. Die ersten Mulis stolpern durch den Ort und wir dürfen endlich losmarschieren. Mindestens 240 Km und mehr als 10.000 Höhenmeter liegen vor uns. Bin gespannt was mich auf den verschlungenen Pfaden Nepals erwartet. Schon nach zweihundert Metern endet die Fahrstraße und wir steigen über eine steile Treppe in das Tal des grünfarbenen Marsyangdi River. Ihm folgen wir auf stetig ansteigendem Weg. Nach einer Stunde erreichen wir die erste Hängebrücke. Auf ihr überqueren wir den Khudi Khola, ein schmaler Seitenarm, der tief unter uns in den Marsyangdi mündet. Wir bleiben am westlichen Flussufer und erreichen Bhulbhule, unseren ersten Rastplatz. Hier fülle ich meine Wasserflasche auf und versuche einige Tropfen Jod beizumischen. Schon beim ersten Einsatz bricht der spröde Verschluss meines braunen Wundermittels. Maikel hilft mir mit einer Ersatzflasche aus. Nach der Pause schaukeln wir hinter einer Muliherde über eine weitere Hängebrücke, die das steinige Flussbett des Marsyangdi überspannt. Wir folgen jetzt dem östlichen Flussufer, passieren ein paar winzige Siedlungen und einen dschungelartigen Wald. Weißblühende Trompetenblumen klettern in die Krone eines alten Baumes. Am Ende eines verschlafenen Ortes kommt uns ein Lama entgegen. Er ist in seinen Gedanken ver-sunken und wird durch eine übermütige Ziegenherde aufgeschreckt. Hinter dieser lebendigen Kulisse thront der ferne Manaslu über bewaldeten Hügelketten. Wir überholen ein paar Träger, die ihre schweren Lasten gleichmäßig über die steinigen Wege balancieren. Zwischen Gummilatschen und Flatterhosen spannen sich die Muskel ihrer dünnen Spinnenbeine. Unglaublich was diese Männer leisten.
In Ngadi finden wir eine Lodge im Grünen mit einfachen Pavillons. Auch wenn ich noch keinen Hunger verspüre schmecken die würzigen Currykartoffeln gut. Nach dem Essen bleibt Zeit für einen kurzen Mittagsschlaf. Gut zwei Drittel der heutigen Strecke liegen hinter uns, so können wir gemütlich weitergehen. In einer rustikalen Hollywoodschaukel entdecke ich die scheuen Augen einer kleinen Maus. Nach Usta wird der Weg steiler. Zwischen braunen Reisterassen steigen wir nach Bahundanda auf. Unzählige Weihnachtssterne säumen den Weg. Die zu Zaunpfosten degradierten Pflanzen beginnen gerade auszutreiben. Eine kräftige Nachmittagssonne macht den Auf-stieg nicht gerade leichter und meine Wasserfalsche ist so trocken wie meine Kehle. Schweißgebadet steige ich die letzten Stufen zur Mountain View Lodge in Bahundanda auf.
Mikel und Sonam haben ihre Rucksäcke bereits abgeschnallt. Der unbeschreibliche Ausblick über ein Meer von Reisterrassen entschädigt für den strapaziösen Aufstieg. Rally, Tommy und Michael haben vorsorglich ein San Miguel mitbestellt. Die 0,66 Liter Flasche reicht gerade für den ersten Durst. Nach einer warmen Dusche finden wir uns in einem lauschigen Innenhof mit Kaufladen wieder. Ich kann mich auch heute noch nicht mit den nepalesischen Reisgerichten anfreunden und bestelle Schweizer Rösti. Müde und zufrieden verbringen wir den lauen Abend im Freien. Herbert erzählt von seinem Everest Treck. Er hat schon einiges erlebt und ist mit Sicherheit der Fachmann in unserer Gruppe. Die zurückliegenden Anstrengungen zeigen Wirkung und die Runde löst sich schon vor 22 Uhr auf. Todmüde und hellwach liege ich auf meiner beinharten Pritsche und ringe um ein paar Minuten Schlaf. Fernes Hundegebell begleitet mich durch die lange Nacht.
Freitag, 28.03.03
Kurz nach 5 Uhr halten mich keine zehn Pferde mehr im Bett und ich drehe eine Runde durch das langsam erwachende Dorf. Eine junge Frau bindet ihre langen schwarzen Haare auf. Sie schaut mich ungläubig an und schenkt mir ein vorsichtiges Lächeln. Durch die Ritzen ihrer Holzhütte sehe ich einen Feuerschein und schmale Rauchfahnen treiben durch die Gasse. Es ist noch frostig und ich beginne in meinem kurzen Hemd zu frieren. Michael erwartet mich bereits und fragt mich in einem spöttischen Unterton, ob ich bereits an der senilen Bettflucht leide. Für ein paar Minuten krieche ich noch in meinen lauwarmen Schlafsack. Jetzt hätte ich die rechte Bettschwere. Um 08.30 Uhr brechen wir zu unserem zweiten Tagesmarsch auf. Wir lassen Bahundanda hinter uns und folgen einem schmalen Pfad, der uns in Schlangenlinien in das Tal des Marsyangdi zurückführt. Die leuchtend grünen Reisterrassen scheinen in den Himmel zu wachsen. In der Morgensonne wirkt dieses satte Farbenspiel fast unwirklich. Mehrmals gerate ich ins Stolpern, weil meine Blicke immer wieder über diese grünen Teppiche wandern. Wir sind umzingelt von Mulikarawanen. Das monotone Geklapper unzähliger Hufe wird nur durch das Pfeifen und Zischen der Mulitreiber unterbrochen. In Gedanken versunken dränge ich mich an den geduldigen Vierbeinern vorbei, gefangen von dieser phantastischen Landschaft. Rot blühende Bäume über grünen Feldern, ab und zu ein paar bunte Hütten, im Tal der Marsyangdi und am Horizont die ersten verschneiten Felswände. Nach einer Hängebrücke bei Sange pausieren wir auf einer überdachten Terrasse, direkt über dem Fluss. Nach Sange folgt ein Auf und Ab durch Nadelwälder.
Zur Mittagspause lassen wir uns in einer schattigen Laube in Jagdi nieder. Bei einem kurzen Rundgang lerne ich ein 12-jähriges Mädchen kennen, die mich zur Nähstube ihres Vaters führt. Dort zeigt sie mir ein großes Marienbild und erklärt stolz, dass sie eine Christin ist und in eine Missionsschule gehen darf. Ihre kleine Schwester lutscht an einem Gummischuh und scheint von ganz anderen Dingen zu träumen. Auch der Weg nach Chamje und Sattare bleibt anstrengend und ich spüre die ersten Folgen der schlaflosen Nacht. Meine Beine werden immer schwerer und der letzte Anstieg zu einem kleinen Pass vor der Ortschaft Tal wird zum Fiasko. Die Oberschenkelmuskulatur wird mit jedem Schritt härter und die ersten Krämpfe zwingen mich zur Pause. Frustriert frage ich mich nach der Ursache dieser Qualen. Mangelnde Vorbereitung oder vielleicht doch eine versteckte Krankheit? Laut Maikel sollten wir unser Ziel in 90 bis 120 Minuten erreichen. Ich brauche ganze drei Stunden. In Gedanken versunken dränge ich mich an den geduldigen Vierbeinern vorbei, gefangen von dieser phantastischen Landschaft. Rot blühende Bäume über grünen Feldern, ab und zu ein paar bunte Hütten, im Tal der Marsyangdi und am Horizont die ersten verschneiten Felswände. Nach einer Hängebrücke bei Sange pausieren wir auf einer überdachten Terrasse, direkt über dem Fluss. Nach Sange folgt ein Auf und Ab durch Nadelwälder.
Auch der traumhafte Blick über das versteckte Tal kann mich nicht mehr aufheitern. Meine Kamera baumelt vor meiner Brust und ich denke gar nicht daran den Auslöser zu drücken. Wie auf Stelzen kämpfe ich mich die letzten Meter zur Lodge. Am Eingang erwartet mich ein lachen-der Maikel und streckt mir ein Snickers entgegen – „Sorry, ich habe euch meine Bestzeit vorgegeben". Na toll, zumindest ein kleiner Trost für einen abgekämpften Krieger. Das Dorf Tal ist von steilen Felswänden umringt, ja regelrecht eingemauert. Wie riesige Scheuklappen verstellen diese Steilwände den Blick zum Horizont. Ein aufziehendes Unwetter lässt das wenige Licht vorzeitig erlöschen und kurz nach meiner Ankunft fallen die ersten Regentropfen.
Die Nachhut, Herbert, Barbara und Dorje werden ordentlich geduscht. Maikel hat bereits in Bahundanda von der Schönheit der Wirtin geschwärmt und wie sich bald herausstellt auch keineswegs übertrieben. In ihrem glatten Gesicht versteckt sich ein geheimnisvolles Lächeln und ihre schmalen, schwarzen Augen verzaubern. Heute ist der 68. Geburtstag von Herbert und wir wollen unseren Grand Seniore ordentlich feiern. Dorje backt den ersten Kuchen seines Lebens. Als Backofen dient ein Blechtopf, der in einem Wasserbad über dem offenen Feuer schwimmt. Für die richtige Oberhitze sorgen glühende Kohlen im Topfdeckel. Während der Kuchen reift, rühren mehrere Helfer den Zuckerguss. Ich lasse mich in dieser lauschigen Küchenrunde nieder, trinke meinen ersten Reisschnaps (Raksi) und kehre wieder ins Leben zurück.
Die Wirtin und ihre Schwester zaubern in dieser einfachen Küche und erfüllen auch ausgefallene Wünsche. Hier lerne ich die nepalesischen Teigtaschen (Momos) kennen. Am späten Abend wird der Geburtstagskuchen aufgetragen und Herbert traut seinen Augen nicht. Nach einem leicht schrägen Geburtstagsständchen packt Rally einen Talisman von Evelyn, Herberts Tochter, aus. Danach verwandelt sich unser frischgebackener 68er zum honorigen Nepalesen. Seidenschal, Buddha-Kette und eine landestypische Kopfbedeckung in der Form einer Käseschachtel werden ihm von der bezaubernden Wirtin überreicht. Obendrein gibt es noch einen scheuen Kuss. Spätestens an dieser Stelle hätte ich gerne mit ihm getauscht. Auch wenn der Zuckerguss mit bloßem Auge nicht erkennbar ist, schmeckt der Topfkuchen von Dorje phantastisch. Am Ende dieses gelungenen Abends lässt unser kleiner Zuckerbäcker noch einmal den Raksi kreisen und ich falle satt und leicht benebelt ins Bett. In dieser Nacht schlafe ich wie ein Stein.
Samstag, 29.03.03
Mit dem ersten Hahnenschrei rolle ich mich aus dem Schlafsack. Michael blinzelt mir müde zu und dreht sich noch einmal um. Im Dorf lösen sich die letzten Nebelbänke auf und der Tag verspricht wieder Sonne pur. Bei meinem ersten Rundgang treffe ich Herbert. Er ist gerade dabei ein paar kleine Mauerspechte zu fotografieren. Mehrere Mädchen, zwischen 8 und 12 Jahren, schwingen ihre zum Teil erstaunlich großen Fäustel und zerkleinern faustgroße Flusskieselsteine. Das so gewonnene Granulat wird später in Säcke gefüllt und zur Betonherstellung verwendet. Über ihren Lohn für diese Knochenarbeit mag ich erst gar nicht nachdenken. Wieder wundere ich mich über ihre fröhlichen Gesichter, die weder angestrengt noch gelangweilt wirken. Heute gehen wir nach Bagarchhap, ein kleiner Ort nordwestlich von hier. Laut Maikel sind wir auf dieser Etappe nur drei Stunden auf den Beinen. Nach dem gestrigen Reinfall bin ich jedoch skeptisch. Wir frühstücken in aller Ruhe und ich probiere zum ersten Mal einen dieser traditionellen Apfelpfannkuchen, ‚Applepancake'. Gegen 09.30 Uhr folgen wir dem steinigen Pfad, verlassen dieses von Felsen behü-tete Paradies durch eine schattige Schlucht und folgen dem Marsyangdi bis Karte. Nach diesem Ort steigen wir steil nach oben, um kurz darauf wieder an Höhe zu verlieren. Der Grund für unseren Abstieg ist eine weitere Hängebrücke über die Marsyangdi- Schlucht. Südlich des Stromes folgen wir zunächst einem schattigen Waldweg. Stattliche Hemlocktannen säumen den teilweise steilen, felsigen Weg. Diese gerade gewachsenen Riesen sind mit der europäischen Tanne nicht vergleichbar.
Trotz ihres Namens gehören sie zur Familie der Kiefergewächse. Wir erreichen Dharapani und legen eine kurze Teepause ein. Im sonnigen Garten einer Lodge bedient uns eine pummelige Wirtin mit einem runden Gesicht. Ein kleiner Hund mit wolligem Pelz bellt uns frech an und versucht uns zu beeindrucken. Kurz darauf lässt er sich jedoch bereitwillig kraulen. Um den Hals einer uralten Frau baumelt eine mit Goldkugeln bestückte Buddhakette. Mai-el versorgt die Schürfwunden eines einheimischen Buben und gibt der Mutter eine Tube Wundsalbe. Reiter galoppieren durch die steinige Dorfstraße und eine rassige Nepali Frau strickt an einer Wollmütze. Der weitere Weg nach Bagarchhap (2164 m) ist nicht mehr anstrengend. Lachen-de Kinder, Muliherden und Träger in Gummilatschen bestimmen das Bild der heutigen Etappe. Gegen 13.00 Uhr erreichen wir die rosarote Marsyangdi Lodge. Vor der Lodge sonnt sich eine herrenlose Kuh und die leichtfüßigen ‚Wuppertaler Gipfelstürmer' sitzen schon wieder vor ihrem ersten San Miguel. Heute ist Waschtag und ich schrubbe meine verschwitzten Unterhosen und T-Shirts. Die Flecken bleiben, aber der scharfe Geruch fließt mit dem trüben Wasser ab. Rund um den Innenhof füllen sich die Wäscheleinen und ich brauche nach dieser Anstren-gung auch meine Dröhnung. Es ist schwül und gegen Abend ziehen erneut dunkle Gewitterwolken auf. Während ich meine vegetable potatos verdrücke setzt ein kräftiger Regen ein.
Nach dem Abendessen fragt mich Sonam wie ich über den Krieg im Irak denke und es entwickelt sich ein interessantes Gespräch. Wie sich bald herausstellt, ist unser 22-jähriger Guide bestens informiert. Er hat eine eigene Meinung und vertritt sie konsequent. Wir sind uns einig, Krieg ist keine Lösung. Zu später Stunde packt Sonam ein Schachspiel aus und fordert die Runde zum Zweikampf. Am Ende muss der ehrgeizige Angreifer einige Niederlagen verbuchen. Nachdenklich packt er seine Figuren ein und ich sollte sie während dieser Tour nie wieder sehen. Im Nordosten treiben Wolken über die bewaldeten Steilhänge und die Silhouetten der alten Tannen wirken gespenstisch. Gegen 21.30 Uhr löst sich die Runde auf. Vor dem Einschlafen rede ich noch ein paar Takte mit Michael. Wir stellen fest, dass wir uns in vielen Bereichen blind verstehen. Insbesondere die Musik verbindet uns und ich muss während unserer endlosen Fachsimpeleien immer wieder an Schwager Franz (Neil) Ebert denken.
Sonntag, 30.03.03
Wieder wache ich mit dem ersten Hahnenschrei auf und um 06.30 Uhr stehe ich mit einer Gänsehaut unter der eiskalten Dusche. Über den Bergwiesen löst sich der Morgendunst auf und die ersten Sonnenstrahlen springen über die Dächer der einfachen Steinhäuser. Über dem Ort leuchten die Gebetsfahnen einer buddhistischen Opferstätte. Auf dem Weg dorthin be-gegnet mir eine bunt gekleidete Frau, die einen großen Futterkorb schleppt. Scheu macht sie einen großen Bogen um mich. Auf dem Rückweg raste ich auf einem warmen Stein. Ein 4-jähriges Mädchen mit frechen Zöpfen schleicht sich an und beobachtet jede Bewegung von mir. Ich schneide Grimassen und versuche ihr so die Angst zu nehmen. Schon nach wenigen Augenblicken grinst sie übermütig und setzt sich zu mir. Natürlich kann ich kein Wort mit ihr reden. Aber wie heißt es so schön - ‚Blicke sagen mehr als Tausend Worte'. Christine, eine Ver-treterin der Frühaufsteher, amüsiert sich über meine kleine Freundin und drückt auf den Auslöser ihrer Kamera.
Gegen 08.45 Uhr verlassen wir Bagarchhap und hinter einem buddhistischen Tor leuchten die verschneiten Ausläufer des Annapurna. Wir folgen dem Marsyangdi nach Westen und der spröde Nadelwald verwandelt sich in einen dichten Dschungel. Die Äste der alten Laubbäume sind mit zottigem Moos überzogen. Hier blühen die ersten Rhododendrenbäume. Auf einer kleinen Wiese bereiten mehrere Träger ihr karges Frühstück. Eine dünne Rauchfahne verliert sich in den verschlungenen Kronen der Baumriesen. Sonam zeigt mir einen Weißkopfaffen, der sich in sicherer Entfernung die Sonne auf den Pelz scheinen lässt. Nach zwei Stunden erreichen wir Tatamarang und pausieren bei einer Tasse Milchtee. Anschließend steigen wir in einem dichten Hochwald steil nach oben. Zwischen Kiefern und Tannen leuchten die silbergrauen Stäm-me alter Birken. Zwei Waldarbeiter kämpfen mit einer großen Säge. Auf einer einfachen Vorrichtung schneiden sie Bretter aus einem dicken Stamm. Bis jetzt dachte ich, dass man diese mittelalterlichen Werkzeuge nur noch im Museum finden kann. Hier scheint die Zeit wirklich still zu stehen. Auf dem Ast einer alten Tanne lauert ein alter Lämmergeier. Er legt seinen nackten Kopf schräg und scheint auf seine nächsten Opfer zu warten. Fast hätte ich den alten Knaben gar nicht bemerkt.
Auch die heutige Etappe ist relativ kurz, so kann ich Michael zu einer kurzen Einkehr in Koto überreden. Während wir einen Hot Lemmon trinken, marschieren die Nachzügler, Vijay, Herbert und Barbara, an uns vorbei. Ein frostiger Wind zwingt uns zum Weitergehen und schon eine viertel Stunde später erreichen wir Chame (2713 m). Am Beginn der Ortschaft drehen wir die Gebetsmühlen einer prächtigen Mani-Mauer. Natürlich halten wir uns an die buddhistischen Gesetze und passieren die Mauer an der linken Seite. Im Ort gibt es erstaunlich viele Schneider. Überall surren antike Nähmaschinen. Am Ende von Chame balancieren wir über die nächste Hängebrücke und erreichen gegen 13.15 Uhr das Sangso Guest House, eine zweistöckige Lodge aus grauen Steinen. Während das nächste Tief aufzieht gibt es eine heiße Nudelsuppe mit Fladenbrot (tibetan bread). Sonam kann bei einer Polizeikontrolle seinen Ausweis nicht vorzeigen und muss deshalb ein Buch über die Stadt Manang kaufen. Eine interessante Alternative zu unseren phantasielosen Geldbußen. Vielleicht könnte man in Deutschland den einen oder anderen Verkehrssünder milder stimmen, wenn man ihm an Stelle des Strafzettels irgendetwas Nettes zum Kauf anböte. Nach dem Abendessen holt unser schlitzohriger Nepalese völlig überraschend sein neues Buch heraus, legt seine Stirn in Falten und beginnt die blumigen Lobgesänge über Manang vorzulesen. Seine englischen Übersetzungen, die er betont sachlich vorträgt, bringen die gesamte Truppe zum Lachen. Hierdurch ermuntert läuft er zur Hochform auf und ich bewundere den spontanen Witz dieses Burschen. Wir sind uns einig, Sonam hat es faustdick hinter den Ohren. Leider gibt es in dieser relativ neuen Lodge einen Fernseher. Gegen 21.00 Uhr versammeln sich die Hauswirte samt Personal und gleich darauf auch Sonam und Dorje vor dem Flimmerkasten. Fast im gleichen Moment bricht die Stimmung ein und die ersten der Gruppe schleichen davon. Kurz vor 22 Uhr folge ich Michael in den Schlaftrakt. Kaum liegen wir flach, ist die Müdigkeit wie weggeblasen. Bis spät in die Nacht reden wir über den Sinn oder Unsinn fester Beziehungen. Michael schildert mir seine verzwickte Situation und ich kann ihm beim besten Willen keine Patentrezepte anbieten, woher auch. Wie sang doch schon der alte Bob Marley ‚no woman, no cry'. Vor dem Einschlafen bin ich mit den Gedanken bei meinen zärtlichen Chaoten daheim. Gut, dass ich in diesen sicheren Hafen zurückkehren kann.
Montag, 31.03.03
Es ist kurz nach 07.00 Uhr und ich fühle mich bestens ausgeschlafen. Die bunten Vorhänge leuchten in der Morgensonne und durch einen schmalen Spalt entdecke ich einen schneeweißen Berg. Begeistert springe ich vor das Zimmer und traue meinen Augen nicht. Gestern noch hing eine graue, undurchdringliche Suppe über den Dächern von Chame. Heute flattern die bunten Fahnen der Hängebrücke vor dieser majestätischen Kulisse. Es ist der Lamjung Himal(6931 m), der seine verschneite Schulter in den stahlblauen Himmel streckt. Vor dem Frühstück klemme ich mir ein Handtuch unter den Arm und gehe klammheimlich zu einer heißen Quelle am Marsyangdi. Maikel, Sonam und einige andere Wasserratten hatten sie schon am Vorabend belagert. Um diese Zeit, so denke ich, kann ich dieses Geschenk der Natur ungestört genießen. Weit gefehlt, rund um das kleine Becken sitzen mehrere Frauen vor ihren großen Wäschekörben. So muss ich heute auf ein heißes Bad verzichten und weiter auf die berühmten Quellen von Tato-pani hoffen. Wir brechen nach Pisang auf und gehen zunächst nördlich des Mar-syangdi River durch ausgedehnte Nadel-wälder. Nach wenigen Kilometern taucht im Südwesten ein weiterer Bergriese auf. Sonam zeigt mir den fernen Gipfel des Annapurna II (7937 m). Auf einem schma-len Pfad steigen wir tief in die Marsyangdi Schlucht hinab, bevor wir erneut auf einem sehr steilen, felsigen Weg an Höhe gewinnen. In Gedanken versunken gehe ich meinen Schritt und muss mich heute kaum anstrengen. Vergessen sind die bleiernen Knochen während der zweiten Etappe. Fern der Gruppe höre ich nur noch das Rauschen des Marsyangdi und ein paar Vogelstimmen.
Glatte Felswände scheinen direkt in den Nadelwald zu stürzen und die hoch stehende Mittagssonne verwandelt diese grauen Flächen in überdimensionale Spiegel. Der Wald wird lichter und auf einem kleinen Pass treffe ich zum ersten Mal auf Souvenirbuden. In einfachen Holzverschlägen liegen Schmuckstücke und Lederwaren aus. Hier warte ich auf Michael und wir steigen gemeinsam bis Dhukure Pokhari ab. Maikel und Sonam winken uns in ein kleines Restaurant mit Sonnenterrasse. Die rechte Zeit für einen Teller ‚fried noodles'. Nach dem Essen gehe ich eine kleine Runde durch den Ort. Auf roh gezimmerten Tischen liegen eingestaubte Lederwaren und handge-arbeitete Schmuckstücke aus. Dazwischen finde ich eine kleine Glocke, die mich an den Klang der Mulikarawanen erinnert. Während ich diese Glocke ausprobiere, schleicht sich ein 4-jähriger Bursche an und greift ohne Scheu nach meiner Hand. Der kleine Dreckspatz gefällt mir. Ich nehme ihn auf den Arm, lasse ihn als Flugzeug kreisen und werfe ihn ein paar Mal in die Luft. Zwischen Angst und Jubel hält er zunächst den Atem an, wird aber bald mutiger und wirft seine kurzen Arme und Beine übermütig in die Luft. Erst nach dieser Aktion merke ich, dass der kleine Flieger an allen Ecken und Enden klebt. Immer wieder streckte er mir seine schwarzen Hände entgegen und in seinem lehmverschmierten Gesicht leuchten schnee-weiße Zähne. Nur mit Mühe kann ich mich von meinem kleinen Freund lösen. Wir brechen wieder auf und erreichen bald die breite Talsenke vor Pisang. Im Süden wächst der Annapurna IV (7525 m) in den Himmel. Ein gewaltiger Klotz, der das Bild dieser Talsenke dominiert. Wir kommen ihm zum Greifen nahe und man möchte am liebsten über seinen bewaldeten Fuß nach oben steigen. Auf seinen zerklüfteten Schultern hängen mächtige Firngletscher und im Zentrum seiner Nordwand zeichnet sich ein Gesicht ab. Durch das Schattenspiel der Nachmittagssonne erwacht dieses Gespenst zum Leben. Seine tief liegenden Augen verfolgen mich und ich fühle die Größe dieses Berges. Wie ein lächerlicher Winzling schleiche ich mich davon.
Jenseits des Marsyangdi erscheinen die lehmfar-benen Steinhäuser von Alt Pisang. Sie glei-chen einem gewaltigen Wespennest und schei-nen sich in der Flanke des Pisang Peak fest-zukrallen. Auf leichtem Weg erreichen wir ge-gen 15.00 Uhr unser heutiges Tagesziel Pisang (3185 m). Drei Mädchen scheuchen eine Herde Ziegen auf. Die Tiere springen direkt vor uns über eine Trockenmauer und stolpern uns fast über die Füße. Mit einem lausbübischen Grinsen hocken die drei Besen auf dem Rand der Mauer und warten auf unsere Reaktion. Ich habe das Gefühl, die Gesichter der Menschen hier werden immer runder. Fast könnte man die Mädels für Mongolen oder Eskimos halten. Ich erreiche den kleinen Innhof der Lodge und Tommy streckt mir bereits seine nackten Füße entgegen. In der linken Hand eine Yak Cigarette und in der rechten die Flasche San Miguel. Der Chef des Hauses, ein gut gebauter Mann um die fünfzig, versteckt sich unter einem verbeulten Cowboyhut. Mit seinem buntkarierten Hemd gleicht er einem mexikanischen Kuhhirten. Egal, er kümmert sich sofort um die ankommenden Wanderer und besorgt uns, Michael und mir, im Handumdrehen ein kühles Bier. Schuhe aus, Rucksack runter und im Schatten zurücklegen. Nach der Siesta begleite ich den kulturhungrigen Vijay. Über steinige Schafweiden steigen wir nach Alt Pisang auf. Dort finden wir ein Sammelsurium an Mani Mauern, Tschörten und Viehställen vor. In diesem steinigen Labyrinth scheinen alle Wege im Kreis zu führen. Über den zum Teil verfallenen Wohnhäusern flattern Gebetsfahnen und die wenigen Menschen ziehen sich in den Schatten ihrer Häuser zurück. Über diesem Wespennest leuchten die weißen Wände einer neuen Stupa. Im kitschigen Innenraum finden wir noch die Stehleiter der Maler. Wir verweilen auf dem Plateau vor dem Tempel und können uns nicht satt sehen. Von hier aus wirkt der Annapurna noch gewaltiger. Wie ein riesiger Klotz droht er das braune Tal des Marsyangdi mit all seinen unscheinbaren Siedlungen und Kreaturen zu erdrücken. Der Mensch, wie klein ist er doch und wie kurz sein Gastspiel auf den Brettern, die für ihn die Welt bedeuten. Ein kühler Wind treibt mir Gänsehaut auf die Arme und ich beneide Vijay um seinen Webpelz. Während wir ins Tal hinuntersteigen ziehen Wolken auf und die zuvor heiße Luft kühlt im Schatten rasch ab. Leicht unterkühlt krieche ich für eine Aufwärmrunde in den Schlafsack. Michael studiert seine Karte. Frisch geduscht fiebert er dem Abendessen entgegen. Den großen Aufenthaltsraum, in dessen Mitte ein bulliger Kanonenofen knistert, teilen wir uns mit israelischen Studenten und einer japanischen Reisegruppe. Maikel erzählt mir, dass die Israelis in Nepal wegen ihrer Schlamperei und übertriebenen Sparsamkeit sehr kritisch gesehen werden. Trotz niedriger Übernachtungstarife versuchen sie stets einen Rabatt herauszuhandeln. Ich selbst habe bisher keine negativen Erfahrungen gemacht. Auf der Strecke zeigten sich die israelischen Studenten freundlich und aufgeschlossen. Neben den üblichen Reis- und Nudelgerichten gibt es heute tatsächlich so etwas wie eine Pizza. Um 20.30 Uhr überlassen wir den Studenten unseren Tisch und ziehen uns auf die Bude zurück.
Dienstag, 01.04.03
Sonam wird heute 22 Jahre alt. Die stürmischen Angriffe der Gratulanten verwirren den scheuen Guide. Nun, da muss er durch. Wieder strahlt die Sonne in einem glasklaren Himmel und am Fluss steigt türkisfarbener Dunst auf. Barbara hat grausame Blasen an beiden Füßen und überlegt wie sie den anstrengenden Höhenweg nach Manang überstehen soll. Herbert zeigt sich einmal mehr als Gentleman. Er verzichtet auf die reizvollere Strecke und geht mit unserer Patientin auf dem einfachen Talweg nach Manang. Wir starten um 07.30 Uhr, überqueren den Marsyangdi und steigen in einem Kiefernwald gemächlich auf. In einem grünen Gletschersee spiegelt sich der Annapurna IV, es riecht nach Moder und zwei alte Baumstämme strecken ihre Aststummel aus dem klaren Wasser. Hier muss ich an die vielen Waldseen in Norwegen und Schweden denken. Ein paar hundert Meter weiter passieren wir eine weitere Mani Mauer und verlassen den Nadelwald.
Wieder breiten sich steinige, terras-senartige Weiden aus. Der Weg führt nun steil nach oben und wir quälen uns fast 500 Höhenmeter über staubige Serpentinen bis zum Pilgerort Ghyaru (3673 m). Hier nehmen wir uns die Zeit für eine Verschnaufpause. Ein spindeldürrer Nepalese beobachtet uns aus der Distance. Seine weißen Augen leuchten in seinem gesenkten, tiefbraunen Gesicht. Vor sich spannt er einen selbst gefertigten Pfeil und Bogen. Wie alt mag dieser kleine Bogenschütze sein, 12 Jahre vielleicht? Stolz zeigt er mir seine Waffe und schießt einen Pfeil in die Luft. Ich folge ihm auf seiner Jagd durch die engen Gassen von Ghyaru. Dann fragt er unvermittelt, ob ich die alte Stupa sehen will. Warum nicht, ich nicke und schon pfeift er einem alten Mann, der uns mit wackeligen Beinen zur 2000-jährigen Stupa führt. Er schließt den Gebetsraum auf und begleitet mich eine viertel Stunde durch den finsteren Raum. Neben wertvollen Skulpturen, alten Schriften und Wand-malereien stehen auch die Fotografien von Zeitgenossen, darunter der Dalai Lama. In seinem abenteuerlichen Englisch versucht er mich in die Geheimnisse dieser Pilgerstätte einzuweihen. Immer wieder sieht er mich durch seine Panzerglasbrille an und zwingt mir ein hilfloses Nicken ab. Nach dieser Exklusivführung schließt er seine Heiligtümer wieder ein und gibt mir noch ein paar gute Wünsche mit auf den Weg. Der scheue Indianer hat sich zwischenzeitlich aus dem Staub gemacht.
Auf meinem weiteren Weg überrasche ich drei Schulmädchen bei ihren Hausaufgaben. Während ich die drei beobachte, spricht mich ein gepflegter Mann um die Dreißig an und gibt sich als Dorflehrer zu erkennen. Nicht ohne Stolz führt er mich durch sein kleines Reich, zeigt mir das Klassenzimmer und sein Büro. Wieder findet der Unterricht im Freien statt und die vergilbten Hefte der Mädchen wirken grau und durchradiert. Ich muss an die vielen Schulhefte in meinem zurückgewiesenen Koffer denken und ärgere mich noch einmal über die bornierten Angestellten der holländischen Fluglinie. Als ich nach einer knappen Stunde wieder zur Gruppe stoße, schnallen die ersten bereits ihren Rucksack auf. Wir folgen einem alten Pilgerweg, der sich an der Flanke des Kang La entlang hangelt. Auf den trockenen Feldern lagern unzählige dunkelbraune Misthäufen. Unter diesem trockenen Kraut sollen angeblich Hochlandkartoffeln wachsen. Hier gibt es keine Pflanzen und die weidenden Schafe scheinen im wahrsten Sinne des Wortes Dreck zu fressen. Jenseits der Marsyangdi Schlucht sehen wir in die steilen Nordwände der Annapurna Range und im Südwesten taucht bereits die kalte Schulter des Gangapurna (7485 m) auf. Mit jedem Schritt verändern diese Riesen ihr Aussehen und man glaubt ihren Puls-schlag zu hören. Vorbei an Tschörten und Mani-Mauern steigen wir auf dem schmalen Pilgersteig nach Paugha ab. Der karge Ort gleicht einer Festung. In den groben Fassa-den der primitiven Steinhäuser sind winzige Fenster, nicht größer als Bullaugen erkennbar. Ununterbrochen heult ein trockener Wind durch die engen Gassen und treibt die wenigen, meist alten Bewohner in ihre kleinen Innenhöfe. Rinder suchen den Schutz einer Steinmauer und über den Dächern flattern ausgeblichene Gebetsfahnen. Mehrere Geier kreisen über dem Marsyangdi Tal. Immer wieder stürzen sie sich in die Tiefe, verschwinden am Rand der Schlucht hinter großen Felsbrocken, um bald darauf wieder abzuheben. Was zieht diese Aasgeier an? Neugierig geworden, suche ich nach der Ursache und finde ein totes Rind. Die Spuren der kräftigen Schnäbel sind unübersehbar.
Während wir unsere Beine auf einer windgeschützten Dachterrasse ausstrecken, schleppt eine weißhaarige Frau zwei Felsbrocken in der Größe eines Medizinballes in den Ort. Mit einem einfachen Strick, der sich über ihrer faltigen Stirn spannt, fixiert sie die Steine auf ihrem krummen Rücken. Allein der Gedanke an diese Schinderei verursacht Schmerzen. Eine andere Dorfbewohnerin müht sich mit einer störrischen Kuh ab. Vergeblich versucht sie das Tier in einen Stall zu treiben. Nach der dritten Ehrenrunde auf dem kleinen Dorfplatz gibt sie resigniert auf. Die störrische Kuh senkt den Kopf und scheint ernsthaft über einen Angriff nachzudenken. Der genervten Bäuerin bleibt nur noch der Rückzug. Zornig wirft sie einen letzten Stein nach der Kuh und verschwindet dann auf nimmer Wiedersehen. Dieses Paugha mit all seinen skurrilen Einwohnern gäbe eine prächtige Filmkulisse ab, fehlt nur noch die Musik von Ennio Morricone. Nach dem Mittagessensteigen wir zwischen Kiefern und Tannen in das Manang Tal ab. In dieser kargen Landschaft erheben sich verspielte Gebilde aus Fels und Lehm, die mich in ihrer Form und Farbe an die berühmten Brüder in amerikanischen Nationalparks erinnern. In rostbraunen Distelteppichen leuchtet das satte Grün der Kiefern.
Vorbei an Braga folgen wir dem breiten Tal des Marsyangdi und erreichen gegen 15.45 Uhr das buddhistische Stadttor von Manang (3351 m). Die breite, nur in Teilen ge-pflasterte Hauptstraße erinnert an die Goldgräberstädte Kaliforniens. Pferde und Rinder trotten schwerfällig nach Hause. Sie kennen den Weg und brauchen offenbar keinen Hirten. Dazwischen spielen die Lausbuben Fußball und es wird von Fall zu Fall entschieden, ob die gut-mütigen Vierbeiner oder die kleinen Ballkünstler ausweichen müssen. In einer Seitenstraße entdecke ich drei Mädchen beim Gummitwist. Andere treiben einen Fahrradreifen vor sich her. Dieses friedliche Miteinander steckt an und ich spüre was es heißt alle Zeit der Welt zu haben. Vor dem Abendessen springe ich unter die kalte Dusche und wärme mich dann im Schlafsack auf.
Die Küche der Marsyangdi Lodge ist spitzenmäßig. Zwei junge Köche in dunklen Strickmützen zaubern die tollsten Sachen auf den Tisch. Ihre Spezialitäten, mais burrito und cheese potato, stellen alles in den Schatten. Rally überfällt noch eine German Bakery und organisiert den Geburtstagskuchen für Sonam. Nach diesem großen Fressen gibt Sonam eine Runde aus. In einer verbeulten Blechkanne serviert er ‚Mustang Coffee', ein Gebräu aus schwarzem Kaffee, gerösteter Yak-Butter und einem Schnaps aus der Region. Ein wahrlich edles Gesöff mit einem leicht ranzigen Nachgeschmack. Wir feiern ausgelassen und Barbara vergisst ihre geschundenen Füße. Gerade als die Stimmung ihrem Höhepunkt zutreibt verfinstert sich die Miene von Maikel. Mit belegter Stimme teilt er uns mit, dass der Thorung La wegen eines Lawinenabgangs nicht mehr passierbar ist. Das bedeutet wir müssen umkehren und den gleichen Weg zurückgehen. Schlagartig breitet sich eine unheimliche Ruhe aus und in der Runde gibt es nur noch betretene Mienen. Noch während ich versuche diese Hiobsbotschaft auf die Reihe zu kriegen, legt dieser Unglücksrabe noch einen drauf. Mit seinem typischen Grinsen hält er ein Schild in die Höhe. Wir lesen 1. April 2003. Sonam, Dorje und Maikel beginnen laut zu lachen und wir blamierten Trecker erholen uns nach und nach von diesem Schreck. Kurz nach 22.00 Uhr kehrt die Nachtruhe ein.
Mittwoch, 02.04.03
Mit einem leichten Brummen im Hinterkopf wache ich gegen 08.30 Uhr auf. Michael sitzt bereits auf seiner Pritsche und reibt sich die Augen. In seinem angenehmen Pfälzer Dialekt fragt er ..un alles klar.. Ich beginne dieses Raubein aus Kaiserslautern richtig ins Herz zu schließen. Heute können wir gemütlich frühstücken, denn wir bleiben in Manang und können uns bei einer leichten Tagestour akklimatisieren. Nach dem Frühstück steigen wir zum Marsyangdi ab. Am Steilhang kommt uns eine alte Trägerin entgegen, die ein großes Bündel Brennholz schleppt. Im Schnecken-tempo arbeitet sich diese ausgemergelte Frau den steinigen Weg hinauf. Wie alt mag sie sein, 75 Jahre vielleicht? Jenseits des Marsyangdi, folgen wir einem schmalen Pfad, der sich am Rande des Gangapurna Eisbruches über eine Moräne nach oben windet.
Mehrere Aasgeier sonnen sich auf dieser Moräne. Sie lassen uns bis auf wenige Meter herankommen, be-vor sie ihre mächtigen Flügel ausbreiten und über unsere Köpfe davon schweben. Am Ende des Gangapurna Gletschers leuchtet ein türkisfarbener See und über ihn hinweg sehen wir bereits die Spitzen des Thorung Peak. Dort so erklärt uns Maikel werden wir den berühmten Thorung La erreichen. Nach einer Stunde Aufstieg erreichen wir ein paar verlassene Schutzhütten für Yak-Hirten. Kurz darauf überschreiten wir erstmals die 4000 m Marke.Auf einem breiten Aussichtsplateau kehren wir um, nicht ohne das herrliche Panorama genossen zu haben. Unter uns der Marsyangdi und die lehmfarbene Geisterstadt Manang, im Norden der Chhulu East (6558 m), im Westen der Tilicho Peak (7134 m), über uns der mächtige Gangapurna (7485 m) mit seinen bizarren Eisbrüchen und im Osten leuchtet der ferne Manaslu durch die Wolken. Auch hier schwinden die Gletscher und das leere Geröllfeld unter dem Gangapurna Eisbruch reicht bis zum Marsyangdi. Die hohen Randmoränen lassen die Größe des ehemaligen Gletschers erahnen. Fast im Dauerlauf kehren wir nach Manang zurück. Rally lobt die German Bakery in den höchsten Tönen und so bleibt es nicht aus, dass wir um die Mittagszeit vor coffee, apple pie und cinnamonroll sitzen. Danach gibt es noch ein San Miguel im Garten der Lodge. Für den Rest des Tages gibt es kein Programm. Nach einer ausgedehnten Siesta breche ich am späten Nachmittag nach Alt Manang auf. Bewusst wähle ich die kleinen Seitenwege und stehe plötzlich vor einer riesigen Ziegenherde. Die störrischen Tiere denken gar nicht daran auf die Seite zu gehen und so kämpfe ich mich mühsam durch diese zottelige Gesellschaft. Ein junger Nepalese, offensichtlich der Ziegenhirte, beobachtet mich und fragt mich in einem überraschend sauberen Englisch woher ich komme und was ich in dieser Gott verlassenen Seitenstraße suche. Er hört mir neugierig zu und gesteht, dass er gerne als Guide arbeiten würde. Danach führt er mich durch seinen Stall, zeigt mir einen alten Büffel und seine Jungtiere. Fast eine halbe Stunde höre ich diesem sympathischen Mann zu und er beginnt immer lebhafter zu werden. Er freut sich über mein Interesse und erzählt von seinen Freunden in Kathmandu und seiner viel zu teuren Sprachschule. Er kann nicht verstehen, dass ich ihn um sein einfaches Leben beneide. Wie alle jungen Menschen klammert er sich an den Traum von einem anderen, besseren Leben, irgendwo da draußen in der fremden Welt. In alten tantrischen Texten heißt es ‚der Mensch ist eine Faser im Gewebe des Lebens, an verschiedenen Stellen verwoben und doch in seinen vielfältigen Erscheinungsformen nur Teil eines unteilbaren Ganzen'. So ist jeder Mensch an seinem Platz wertvoll und es macht keinen Sinn über den Wert, die Macht und den vermeintlichen Erfolg des Einzelnen nachzudenken. Am Ende sind wir nur Eintagsfliegen, die kurz in der Morgensonne aufleuchten, um dann über Nacht von der Bildfläche zu verschwinden. Daran ändern auch Denkmäler und Staatsbegräbnisse nichts.
In Gedanken versunken steige ich über die steinigen Terrassen nach Alt Manang auf. Vorbei an weidenden Pferden und Ziegen, die zwischen Disteln und Steinen vergeblich nach Futter suchen. Im Schatten eines alten Stadttores strecke ich meine müden Beine aus. Im Tal leuchtet das silberfarbene Ypsilon des jungen Marsyangdi River. Seit Tagen folgen wir diesem Fluss, der die kargen Täler mit Leben erfüllt. Jetzt haben wir fast seine Quelle erreicht. Ein Jugendlicher schleppt einen Korb mit Wäsche an. In aller Ruhe schrubbt er seine Hemden und meine Anwesenheit scheint ihn nicht im Geringsten zu stören. Die holprigen Gassen sind menschenleer. Es ist heiß und die Menschen scheinen sich hinter den schmucklosen Fassaden verkrochen zu haben. Während ich so vor mich hin schlendere, lacht mir eine Frau um die vierzig zu. Sie beugt sich über die Balkonbrüstung ihres Hauses und fragt mich neugierig wohin meine Reise geht. Kurz darauf steht diese ‚Indianerin' in der schmalen Eingangstüre ihrer bescheidenen Hütte und lädt mich auf eine Tasse Chiya ein. Sie führt mich durch den finsteren Treppenaufgang und zeigt mir ihre 84-jährige Mutter, die wie ein menschlicher Schatten auf ihrem schmalen Lager kauert. Es riecht nach Krankheit und die müden Blicke der Alten durchdringen ihre dunkle Kammer, scheinen aus einer anderen Welt zu kommen. Eine unheimliche Begegnung und ich bin froh wieder ins Freie zu dürfen. Die Bäuerin mit ihrem runden, gutmütigen Gesicht serviert den Chiya und erzählt aus ihrem entbehrungsreichen Leben. Ohne Mann und Kinder pflegt sie ihre Mutter, kämpft als Tagelöhnerin ums Überleben. Wir sehen uns ein Fotoalbum an und sie erzählt von dem großen Lama aus Kathmandu, der vor drei Jahren Manang besuchte.
Sie selbst ist als geschmückte Festdame in einem bunten Kleid zu sehen. Fast kindlich freut sie sich über mein ehrliches Interesse. Sie erzählt mir von ihren beiden Brüdern, von hungrigen Kindern und schwierigen Frauen. Sie selbst, so beteuert sie stolz, würde sich nie an einen Mann verschwenden. Die Zeit verrinnt und nach der zweiten Tasse Tee holt sie eine kleine Holzschatulle aus dem Schlafzimmer. Sie zeigt mir ihren tibetischen Silberschmuck, den sie an Markttagen in Manang verkauft. Von ihr kaufe ich eine Buddha-Kette mit einem Türkis und zwei Korallen für 800 Rupien. Auch wenn ich hier ein wenig mehr berappen muss, freue ich mich an dieser Kette. Den Chiya bekomme ich gratis dazu und nach einem sehr herzlichen Abschied trete ich den Heimweg an. Beim Abstieg begegnen mir vier Teenager. Die übermütigen Mädels strecken ihre Hände und fordern money oder sweets. Ihre Fröhlichkeit steckt an und ich werde wieder um ein paar Rupien ärmer.
Die Abendsonne taucht das Tal des jungen Marsyangdi in ein rotes Licht. Einer inneren Uhr folgend trotten vor mir ein paar Pferde nach Manang. Die robusten Vierbeiner verstecken sich unter einem dichten Winterpelz. Nicht viel größer als die verwandten Maultiere wirken sie wie eine Miniaturausgabe unserer Brauereigäule. Im schattigen Manang geht wieder die Post ab. Alles was Beine hat scheint sich auf der breiten Hauptstraße zu versammeln. Nach meinem Ausflug in die verlassene Altstadt tauche ich gerne in dieses fröhliche Durcheinander ein. Hinter dem Hotel spielt ein wilder Haufen Volleyball und ich wundere mich über die enorme Sprungkraft und die Geschicklichkeit einiger Akteure. Man hat hier Zeit und so ist es auch kein Wunder, dass der staubige Platz von zahlreichen Zuschauern jeden Alters belagert wird. Es gibt immer wieder Szenenapplaus und misslungene Aktionen werden gnadenlos mit einem lauten Gelächter quittiert. Wieder zaubern die beiden Herren in Strickmütze ein phantastisches Abendessen. Nach einem üppigen cheese bean burrito gibt es noch einen mustang coffee und als besonderer Leckerbissen getrocknetes Yak Fleisch. Satt und müde verabschieden wir uns gegen 22.15 Uhr in die Koje.
Donnerstag, 03.04.03
Um 05.00 Uhr röhrt ein Muli durch die verschlafene Stadt und stiehlt mir mindestens eine Stunde Schlaf. Nach mehreren hilflosen Drehungen schlüpfe ich aus meinem verschwitzten Kokon und stehe um 06.15 Uhr unter der eiskalten Dusche. Die Zeit bis zum Frühstück verbringe ich auf der sonnigen Veranda vor der Lodge. Die Kinder des Hauswirtes, ein 9-jähriges Mädchen und ihr 6-jähriger Bruder, springen um mich herum. Ich zeige ihnen wie man auf Händen läuft. Sofort zeigen sie mir ihre Kunststücke und purzeln wild über den rauen Holzboden der Veranda. Noch mehr Freude kommt auf, als ich den beiden meine russische Armbanduhr überlasse. Immer wieder schnarrt der kleine Wecker und auch nach der fünften Wiederholung strahlen die beiden wie Honigkuchenpferde. Es ist so leicht ein Kinderherz zu gewinnen. Um 09.30 Uhr brechen wir nach Yak Kharka auf.
Wir folgen dem Zickzack der kleinen Gassen und treiben ein paar verschlafene Vierbeiner vor uns her. Manang verlassen wir durch ein bauchiges Stadttor. In diesem Tor finde ich die vertrauten Gebetsmühlen und eine verbeulte Nescafe-Dose, die ein findiger Nepalese als Ersatzmühle ein-gebaut hat. In Form und Größe gleich, dreht sich dieses Relikt aus einer anderen Welt munter mit und kein buddhistischer Pilger scheint sich daran zu stören. Hinter Old Manang sehen wir einem Bauern beim Ackern zu. Zwei stämmige Ochsen zerren den primitiven Holzpflug über den kargen Boden. Im Gefolge erkenne ich die Tagelöhnerin von gestern wieder. Für ein kurzes Lächeln unterbricht sie ihre Knochenarbeit. Zwischen Dornbüschen und klein-wüchsigen Latschenkiefern steigen wir weiter nach Gungsang auf und legen dort eine Teepause ein. Herbert und Christine klettern auf das Dach der kleinen Lodge und lassen sich den kühlen Wind um die Ohren wehen. Die restlichen Teilnehmer teilen sich die schattigen Nischen im Innenhof. Obwohl die Sonne fast senkrecht steht, sind die Tempe-raturen erträglich. Fast 4000 m über dem Meeresspiegel beginnt die Luft merklich dünner zu werden. Maikel sorgt sich um das Wohlbefinden seiner Truppe. Heute ist es Stephanie, die über Kreislaufprobleme klagt. Nachdem ein weiterer Anstieg vor uns liegt, nimmt sie prophylaktisch ein Mittel gegen die gefürchtete Höhenkrankheit ein. Wir steigen weiter auf und folgen dem schmalen Flussbett des Jhorgeng Khola. In dieser Mondlandschaft gibt es nur noch Steine und ein paar magere Bodendecker. Hinter uns streckt der Gangapurna seine schroffe Nordwand in den Himmel. Vor dieser beeindruckenden Kulisse weidet eine Yak Herde.
Gegen 12.45 Uhr erreichen wir die grauen Steinhäuser von Yak Kharka. Auch hier auf ca. 4200 m Höhe streichen ein paar Yaks um die Häuser. Ein stattlicher Nepali um die 40 beobachtet unsere Ankunft. Er trägt eine leuchtend gelbe Bomberjacke und das Fell eines Red Panda. Sein ebenholzfarbenes Gesicht wird von kantigen Backenknochen bestimmt. Unter seinem schmalen Mongolenbärtchen leuchten schneeweiße Zähne. Er beeindruckt alleine durch seine wilde Erscheinung und ich muss an die Portraits großer Häuptlinge denken. Wie sich bald herausstellt ist dieser Mann ein Häuptling. Zumindest bestimmt er die Regeln in diesem Camp. Es ist noch früh am Tag und wir gönnen uns einen kurzen Mittagsschlaf. Michael erzählt mir von seinem akkuraten Vater und von dessen Vorstellungen eines gepflegten Vorgartens. Unweigerlich muss ich an den englischen Rasen und die stets geschleckten Waschbetonplat-ten in Sailauf denken. Tommy nennt uns später ‚Quassel-tanten'. Egal, ich bin froh neben diesem bescheidenen und gleichzeitig unterhaltsamen Pfälzer schlafen zu dürfen. Vor dem Abendessen werfe ich einen Blick in die rustikale Küche. Aus dem kleinen Ofenloch ragen lange Prügel. Zwischen den Flammen steigt blauer Rauch auf. Es riecht würzig und man kann den geschäftigen Koch im hinteren Teil dieser Räucherkammer erst auf den zweiten Blick erkennen. Über dem Ofen hängt ein großes, blaues Ölfass mit der Aufschrift ‚hot water'. Der bereits beschriebene Häuptling geht dem Küchenchef zur Seite und schlägt ein paar Eier in die Pfanne. Diese urgemütliche Kochstelle könnte man auch für eine Schmiede halten.
Maikel macht eine Zwischenabrechnung und kassiert pro Nase ungefähr 4000 Rupien ein. Ich bin froh, dass er die Verwaltung der Finanzen und das lästige Bezahlen vieler kleiner Bagatellebeträge übernimmt. So kann ich mich auf andere, wichtigere Dinge konzentrieren. Irgendjemand zaubert einen antiken Gameboy hervor und Dorje ist nicht mehr zu bremsen. Heute gibt es eine bunte Reispfanne und zwischen den gerösteten Reiskörnern finden sich jede Menge Knoblauchzehen, genau nach meinem Geschmack. Während wir zusammensitzen ziehen dichte Wolken auf. Wie ein breiter Strom kriechen sie aus dem Manang Tal und hüllen das Camp in wenigen Augenblicken ein. So irren wir gegen 21.30 Uhr im dichten Nebel zu unseren Unterkünften.
Freitag, 04.04.03
Rally, unser langes Elend, darf sich heute über ein taufrisches Frühstück freuen. Wie üblich bestellt er sein Snickers und bekommt einen Schokoriegel, dessen Haltbarkeitsdatum gerade mal drei Monate überschritten wurde. Wenn man bedenkt, dass wir hier fast am Ende der Welt sind, kann man durchaus von einem rekordverdächtigen Vorgang sprechen. Ich ziehe da einen frischen, wenn auch leicht verbrannten applepancake vor. Um 08.30 Uhr satteln wir die Hühner und steigen weiter in diese Mondlandschaft hi-nein. Junge Hunde spielen in der Sonne. Sie kümmern sich nicht um diese komischen Gestalten mit den Säcken auf den Rücken. Wir folgen dem leicht ansteigenden Pfad, überqueren den Fluss und erreichen nach einem kurzen Steilstück Lower Phedi unseren Frühstücksplatz. Ein Ziegenbock streckt seinen Kopf unter dem Tisch hervor und schaut neugierig in die Runde. Er scheint hier den Platz eines Hofhundes einzunehmen. Auch hier fällt mir ein dunkelhäutiger Nepalese mit Red Panda Mütze auf, der ohne weiteres den Lederstrumpfspielen könnte. Mit zunehmender Höhe scheinen die Gesichter der Einheimischen immer dunkler und die Augen immer kleiner zu werden.
Nach dem Frühstück queren wir einen relativ steilen Geröllhang. Die weniger Trittsicheren müssen hier einen Gang zurückschalten. Am Fluss und in den Hängen über uns weiden zottelige Rinder, die ihren wilden Vorfahren sehr ähneln. Der schmale Weg steigt hier nur unmerklich an und wir erreichen Thorung Phedi um die Mittagszeit. Gerade rechtzeitig für einen Teller fried noodles. Stephanie fühlt sich immer noch schwach, weshalb ihr Maikel von einem weiteren Aufstieg abrät. Zusammen mit ihrem Freund verbringt sie die Nacht in Thorung Phedi. Über steile Wege, Schnee- und Geröllfelder geht es noch eine weitere Stunde bergauf. Auf ca. 4700 m erreichen wir das High Camp, unsere letzte Station vor dem gefürchteten Pass. Zwei schlichte Behausungen schützen uns vor dem schneidenden Wind. Hier gibt es so gut wie keine Flora mehr und die überfrorenen Steine könnten in den Hochtälern der Alpen liegen. Wie gestern strömen dichte Wolken aus dem Tal und bald erkennt man die Hand vor Augen nicht mehr. In dieser Waschküche beginnt es zu schneien und ein eiskalter Wind treibt uns schnell in die Unterkünfte. Zeit für einen ausgedehnten Mittagsschlaf. Die gekalkten Wände der Schlafräume sind mit unzähligen Rissen durchsetzt, die den kahlen Raum wie ein riesiges Netz zu umspannen scheinen. Auch innerhalb der Unterkunft liegen die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt und wir sind froh einen dicken Schlafsack zu haben. Noch bis gestern war dieser platzraubende Schlafsack vermeintlich überflüssiger Ballast. Wieder reden wir über Musik. Michael erweist sich als eingefleischter Irish Folk Fan. Zum Abendessen bestelle ich meine heiß geliebten Garlic potatos. Maikel schaut besorgt aus dem Fenster und bereitet uns auf eine mögliche Umkehr vor. Es schneit immer noch und das Camp droht in einen zweiten Winterschlaf zu versinken. Einige Mitglieder der Truppe verfügen über keinerlei alpine Erfahrungen und ein Weitergehen durch ungespurten Neuschnee könnte zur gefährlichen Falle werden.
Zudem verfügen wir über keine alpine Ausrüstung. Natürlich gibt es lange Gesichter und jeder denkt mit Widerwillen an eine erzwungene Umkehr. Ein nepalesischer Bergführer klagt über die überzogenen Ansprüche seiner französischen Kunden. Sonam, Maikel und Dorje tauschen sich mit ihm aus und es entbrennt eine zum Teil heftige Debatte mit viel Gelächter zwischen den Beiträgen. Leider kann ich nur einen Bruchteil dieser wilden Geschichten verstehen. Kurz nach Michael krieche ich in meinen Schlafsack und genieße die eingefangene Körperwärme. Michael atmet schwer und ich spüre seine Ruhelosigkeit. Obwohl ich in dieser Höhe keine Müdigkeit verspüre, schlafe ich irgendwann um Mitternacht ein. Die nächsten drei Stunden verbringe ich im Halbschlaf. Immer wieder höre ich meinen stöhnenden Zimmergenossen. Die Zeit scheint still zu stehen und um 02.45 Uhr gehe ich vor die Unterkunft und stehe in ca. 10 bis 15 cm Neuschnee. Aber es hat aufgehört zu schneien und die Sterne leuchten über den zahlreichen Gipfeln. Es ist bitterkalt und ich krieche beruhigt in meinen vorgewärmten Schlafsack zurück.
Samstag, 05.04.03
Um 05.00 Uhr schnarrt mein kleiner Wecker und ich ziehe wenige Minuten später eine Spur durch den jungfräulichen Neuschnee, wecke den Rest der Truppe und erreiche schließlich den unbeleuchteten Aufenthaltsraum. Sollte ich mich etwa in der Zeit geirrt haben? Nein, in der Küche brennt bereits eine Kerze und der Wirt schleicht um seine leeren Töpfe. Die Lodge gleicht einem Lazarett und man muss höllisch aufpassen, dass man auf keinen schnarchenden Träger tritt. Vergeblich warte ich auf den ersten Kaffeeduft und als ich Minuten später nach dem Koch sehe, steht er immer noch ratlos vor seinem Feuer. Er scheint irgendetwas zu suchen und ich biete ihm meine Stirnlampe an. Gerne schnallt er sich dieses vergleichsweise helle Spotlight um. Nach und nach schleichen die müden Krieger in die Hütte und man sieht den meisten die Strapazen der vergangenen Nacht an. So ist es kein Wunder, dass an diesem Morgen keine rechte Unterhaltung aufkommt.
Pünktlich um 06.00 Uhr treffen Sonam, Mike und Stephanie im High Camp ein. Stephanie wirkt gestärkt und erklärt selbstbewusst: ‚ich gehe heute über diesen Pass'. Während wir über das weitere Vorgehen beraten, marschiert eine koreanische Gruppe los. Kurz danach brechen auch die Franzo-sen auf und wir können auf gut gespurte Wege hoffen. Die Sonne bringt die wenigen, noch vorhandenen Wolkenfahnen zum Leuchten. Die Berg-riesen strecken ihre weißen Häupter in einen stahlblauen Himmel. Ich fühle mich kräftig und kann Maikel und den vorausgehenden Franzosen mühelos folgen. In Gedanken versunken set-ze ich einen Fuß vor den anderen und mit jedem Schritt wächst meine Freude. Ich beginne zu schnallen, dass ich kurz vor dem Höhepunkt einer phantastischen Reise stehe. Alles in mir beginnt zu jubeln und ich erreiche den Thorung La nach läppischen zwei Stunden. Maikel schließt mich in die Arme und ich hätte vor Freude tanzen können. 5416 m über dem Meeresspiegel stimmen wir das Lied ‚Über den Wolken an'. Und wirklich, die wenigen Wolken treiben unter uns, scheinen an den mächtigen Bergketten zu kleben.
Michael, Rally und Tommy kommen ca. 15 Minuten später zu uns. Kurz nach ihnen erreicht Christine den Pass und wir genießen gemeinsam die Weite um uns herum. Im Süden der mächtige Annapurna Stock, im Osten das Damodar Himal Massiv, im Westen der Thorung Peak und im Norden die fernen Spitzen von Mustang. Michael packt seinen schottischen Whisky aus und ich denke im Himmel kann es nicht schöner sein. In diesem unvergesslichen Moment erscheint Dorje, unser kleiner Träger. Völlig außer Atem stammelt er ‚the old man is broken down'. Maikel wird blass und scheint die Tragweite dieser Botschaft sofort zu begreifen. Gemeinsam mit ihm geht es im Laufschritt talwärts. Auf dem Weg erklärt er mir das weitere Vorgehen. Im Ernstfall wird er mit dem Patienten per Helikopter nach Kathmandu zurückkehren. Sonam soll den Rest der Gruppe weiterführen. Ungefähr 200 m unter dem Pass kommen uns Barbara, Stephanie und Mike entgegen. Sie wissen auch nichts Neues und Barbara wirkt wie paralysiert. Nach einem kurzen Austausch nehme ich ihr den Rucksack ab und begleite die drei zum Pass. Eine kreidebleiche Christine hastet völlig aufgelöst an uns vorbei. Sie lässt sich nicht zur Umkehr bewegen. Wir steigen wortlos auf und ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Wie in einem schlechten Videoclip hageln Bilder auf mich ein. Noch vor einer halben Stunde glaubte ich zu schweben, nun holen mich die vielen belastenden Erfahrungen aus meinem polizeilichen Alltag in die Realität zurück. Wir gehen langsam und erreichen die Passhöhe nach 30 Minuten. Die Spannung innerhalb der Gruppe kann man förmlich greifen und die ersten Tränen rinnen über die Gesichter einiger Teilnehmer. Jeder ankommende Trecker wird gelöchert und die schlimmsten Befürchtungen werden bald zur Gewissheit. Mit der Zeit fordert die Höhe ihren Tribut und wir beschließen, dass ein Großteil der Gruppe absteigt. Zusammen mit Michael warte ich noch eine weitere Stunde auf Christine, Sonam und Dorje. Von Sonam erfahren wir, dass Herbert auf einer Höhe von knapp 5200 m das Bewusstsein verloren hatte und verstorben war. Spätestens jetzt war auch der letzte Hoffnungsfunken erloschen. Christine läuft schnurstracks an uns vorbei und keucht nur noch ‚ich muss hier runter'. Sonam bleibt ihr auf den Fersen und auch wir schnallen wieder die Rucksäcke auf. Bevor wir ebenfalls absteigen binden Dorje und Michael Gebetsfahnen auf. Wie von Christine gewünscht, sollen sie in Gedenken an Herbert flattern. Obwohl ich kein gläubiger Mensch bin, ergreift mich dieser Gruß ins Jenseits.
Wieder überqueren wir zahllose Schnee- und Geröllfelder und mit jedem verlorenen Höhenmeter steigt die Temperatur. Dorje beeindruckt durch seine Trittsicherheit. Wie ein Wiesel schlängelt er sich zwischen den Felsbrocken hindurch. Auch Michael fühlt sich besser und seine Gleichgewichtsstörungen schwinden mit abnehmender Höhe. Nach den Geröllfeldern folgen wir dem schlammigen, zum Teil steilen Pfad, der sich endlos ins Tal schlängelt. Tiefe Risse und Steinbrocken zeugen von längst vergessenen Gletschern. In tiefen Schluchten stürzen kleine Wildbäche ins Tal. Sie speisen den Jhong Khola und begrünen das Tal von Muktinath. Vor einer kleinen bewirtschafteten Lodge treffen wir wieder auf die Gruppe und steigen die letzten Meter gemeinsam ab. Nach mehr als 1600 m Abstieg beginnen die Muskeln langsam mürbe zu werden. Ein phantastischer Ausblick über das malerische Tal lässt uns die Strapazen für einen kurzen Moment vergessen. Vorbei an dem berühmten Kloster von Muktinath (3802 m) schleppen wir uns über den breiten, trockenen Lehmweg durch den historischen Ort. Überall werden bunte Decken und Tücher angeboten.
Auf dem Dorfplatz kauern weißhaarige Frauen auf ihren ausgebleichten Webstühlen. Dazwischen werden Schnitzereien, Schmuck und buddhistische Skulpturen verhökert. Viel zu müde für einen Nachmittagsbummel folge ich den anderen in die geräumige Lodge. Auf der lehmigen Dachterrasse strecken wir bei einer Zigarette die Beine aus. Ein wunderschöner Sonnenuntergang besiegt meine Müdigkeit und ich tigere noch einmal über die Reisfelder. Das grüne Tal ist von braunen Lehmfeldern eingeschlossen. Pastellfarbene Wolkenbänke treiben um die roten Felswände. Im Westen strahlt die weiße Schneide des Dhaulagiri. Mit seinen 8167 m ist er zweifellos der König dieser Region. Das Spiel der Farben in diesem glühenden Talkessel lässt mich Zeit und Raum vergessen. Während große Schattenfelder die ersten Dörfer und ihre Bewohner verschlingen, leuchten die fernen Gipfel von Mustang in allen Farben. Wie klein ist doch der Mensch, nicht größer als ein Sandkorn und doch wäre er in der Lage dieses Paradies mit einem Knopfdruck zu zerstören. Die Zeit verrinnt und ich finde den Heimweg gerade noch vor Einbruch der Dunkelheit. Vor dem Abendessen lerne ich die berühmtberüchtigte ‚Pocket-Dusche' kennen. Das heißt ich hole mir in der Küche einen Eimer Wasser, steige auf einen runden Schemel und gieße mir den Inhalt mit einer Schöpfkelle über den Kopf. So wird man zwar nicht wirklich sauber, aber man fühlt sich gut dabei. Michael kämpft mit den Folgen einer leichten Höhenkrankheit. Schwindelanfälle und Kopfschmerzen zwingen ihn auf die Matratze. Das Abendessen wird nur von einem Thema dominiert. Herbert ist nicht mehr unter uns. Zwei junge Männer aus Neuseeland und Israel waren am Pass unter den Ersthelfern. Sie sind an diesem Abend unsere Gäste und besonders dem jungen Israeli scheint der Schrecken noch im Nacken zu sitzen. Die bedrückenden Schilderungen der Augenzeugen, versteinerte Mienen und Tränen lassen an diesem Abend keine Freude aufkommen. Erneut muss ich erfahren, dass viele Menschen mit dem Sterben nicht umgehen können. Meine Stimmung droht auf den Nullpunkt zu sinken und gegen 08.15 Uhr streiche ich vorzeitig die Segel. Michael schläft bereits tief und fest, gut so.
Sonntag, 06.04.03
Wirre Gedanken und schwere Träume lassen mich in dieser Nacht nicht zur Ruhe kommen. So flüchte ich bereits um 05.15 Uhr ins Freie. Es ist kein Laut zu hören und die Sterne verblassen am Morgenhimmel. Im Osten kriecht das erste Morgenrot über die finstere Passhöhe und ich klettere östlich von Muktinath auf einen steinigen Hügel. Bei relativ frostigen Tem-peraturen hocke ich ca. 100 m über der Ortschaft und warte auf die ersten Sonnenstrahlen. Unter mir beginnt das Tal zu erwachen. Die ersten Hähne krähen, Hunde bellen, ein paar Frühaufsteher pilgern zum Kloster und schlagen die Gebetsglocke. Die Sonne wandert über das Tal und bringt das Grün der Reisfelder und die gekalkten Häuser zum leuchten. Während ich das Licht- und Schattenspiel dieser über-dimensionalen Freilichtbühne verfolge, bewacht mich ein herrenloser Hund.
Von mir unbemerkt hat sich eine rot-braune Promenadenmischung bis auf einen Meter an mich herangeschlichen und zum Schlafen eingerollt. Nach dem ersten Schrecken wird mir schnell klar, dass ich vor diesem Tier keine Angst haben muss. Umso mehr verwundert es mich, dass mein heimlicher Besucher einen vorbeiziehenden Pilger zornig anknurrt. Nach einer Stunde erreichen mich die ersten Sonnenstrahlen und das Frieren hat schnell ein Ende. mente (Luft, Wasser, Erde, Feuer und Äther) werten die Gläubigen als göttliche Erscheinung. Zwischen unzähligen Pilgern schlendern wir durch ein Meer von Gebetsfahnen. Vor dem Haupttempel hocken ein paar ausgemergelte Sadhus, die sich für den Fotografen bereitwillig in Pose setzen, nicht ohne hinter her die Hand aufzuhalten. Ähnlich erlebe ich einen kleinen, grauhaarigen Tempelwächter, der mich an einer kleinen Seitenkapelle regelrecht überfällt. Nachdem er mir die Bedeutung der kitschigen Bildtafeln und Skulpturen in einem absolut unverständlichen Kauderwelsch erklärt hat, veranstaltet er ein kurzes Spektakel, an dessen Ende er mir einen safranfarbenen Punkt auf die Stirne drückt. Natürlich war diese hinduistische Sondereinlage nicht umsonst. Leicht genervt ziehe ich mich in den Schatten eines alten Baumes zurück. Unverkennbar hat der Tourismus in dieser Region seine Spuren hinterlassen und die zurückhaltende Art buddhistischer Bergbauern, wie ich sie jenseits des Thorung La schätzen lernte, scheint diesen geschäftstüchtigen Zeitgenossen verloren gegangen zu sein. Am späten Vormittag schlendern wir ein letztes Mal durch die belebte Marktstraße Muktinaths und ich erliege dem Charme einer Händlerin, die mir im Handumdrehen eine Schmuckdose und einen Armreif verhökert. Der Schaden hält sich aber in Grenzen. Die 400 Rupien würden zu Hause gerade mal für ein lächerliches Sparmenü bei Mc Donalds ausreichen. Um die Mittagszeit verlassen wir den ‚Ort der Erlösung' und folgen dem Lauf des Jhong Khola, der sich in einer tiefen Schlucht nach Westen schlängelt. Jenseits der Schlucht ragen bizarre Felsformationen auf. Über lange Strecken führt der Weg durch eine vegetationsarme Steinwüste. An den Menschen erinnert nur die hässliche Stromleitung, die sich seit einigen Jahren um den gesamten Annapurna Stock spannt. Auf dem Weg erzähle ich Sonam von Deutschland. Er ist neugierig und fragt auch nach den Details. Ab und zu zieht er die Augenbrauen hoch und wirft ein ungläubiges ‚really' ein. Er will im Frühsommer nach Deutschland kommen und ich würde ihn gerne bei seiner Ankunft in Frankfurt oder München erleben. In dieser staubigen Einöde verlieren wir rasch an Höhe.
Mit langen Schritten steuern wir auf einen zunächst kleinen grünen Punkt am Ende der Schlucht zu. Dieser unscheinbare Punkt markiert unser heutiges Etappenziel. Der historische Ort Kagbeni gleicht einer fruchtbaren Oase, die sich wie eine grüne Niere in das weit-läufige Flussbett des Kaligandakischmiegt. Bald erkennen wir die Strukturen der Reisfelder und die grau-en Mauern des mittelalterlichen Dorfes. Dunkelgraue Gewitterwolken schlucken das Licht und über der finsteren Silhouette des Dorfes leuchtet das weiße Kiesbett des Kaligandaki in einem fast gespenstischen Zwielicht. Zuletzt folgen wir einem steilen Hohlweg der in einen kleinen Dorfplatz mündet. Ein stürmischer Wind reißt an den weiten Kleidern der Bauern, die ihre Rinder und Schafe eilig in die Ställe treiben. Gegen 15.15 Uhr erreichen wir die in einer verwinkelten Gasse versteckte Lodge, gerade noch rechtzeitig vor dem großen Gewitterregen. Hier werden wir von einer sehr freundlichen und aufmerksamen Familie empfangen. Der bunte Aufenthaltsraum lässt uns die triste Steinwüste schnell vergessen.
Leider ist der Tod auch heute wieder ein zentrales Thema. Die immer wiederkehrende Frage nach dem Sinn und der Vermeidbarkeit dieses unerwarteten Todesfalles bringt uns nicht weiter. Wir drehen uns im Kreis und die Nerven einiger Teilnehmer liegen bereits blank. Vijay und Christine sitzen mit feuchten Augen und versteinerten Mienen am Tisch. Jeder Versuch das Gespräch auf alltägliche, weniger belastende oder gar humorvolle Themen zu lenken, wird mit vorwurfsvollen Blicken quittiert. Zusammen mit den angespannten Wuppertalern und Michael löse ich mich aus dieser Umklammerung. In einer German Bakery lassen wir die Dreizehn gerade sein. Sonam kommt nach und weiht uns in seine Zukunftspläne ein. Nach der Devise ‚alles ist möglich' träumt er unter anderem von einer Karriere als Everest-Führer und Fußballprofi. Wieder spickt er seine ehrgeizigen Pläne mit komödiantischen Elementen. Wir hängen zwei Stunden in diesem kleinen Cafe herum. Vor dem Abendessen mache ich mit Stefanie und Christine einen kleinen Rundgang durch den Ort. Mit Stirnlampe besichtigen wir den wuchtigen Tempel von Kagbeni, in dessen Hof zwei aggressive Wachhunde ihre Zähne fletschen. Es sind die ersten Tiere in Nepal, die mir gefährlich erscheinen. Bei einsetzender Dunkelheit irren wir durch unbeleuchtete Gassen und Hinterhöfe. Ohne Stirnlampe wären wir in diesem Labyrinth verloren. Hier gibt es keine Lichtquellen und die spielenden Kinder scheinen die Augen von Katzen zu haben. Dorje begegnet uns an der Türschwelle zur Lodge. Unser besorgter Träger wollte gerade ausschwärmen. Sonam erzählt uns von seinem Telefonat mit Maikel, der in Katmandu die Überführung des Leichnams organisiert. Nachdem wir den weiteren Tourenverlauf besprochen haben, ziehe ich mich gegen 21.30 Uhr müde ins Bett zurück. Gegen Mitternacht weckt uns Stefanie... ‚Sonam ist zusammengebrochen' Ich traue meinen Ohren nicht und fürchte in diesem Augenblick eine weitere Tücke des Schicksals. Ohne Bewusstsein, verschwitzt und kreidebleich liegt unser junger Guide auf seinem Lager. Hilflos massiert Vijay seine Füße. Was ist zu tun? Meine Erste Hilfe Kurse liegen Jahre zurück. Atmung, Puls und Herzschlag sind stabil? Okay, dann die Schocklage. Beine hoch und warten. Langsam kehrt das Leben in den schlaffen Körper zurück. Ich spüre den Gegendruck der Beine und im nächsten Augenblick schlägt Sonam die Augen auf. Ein hörbares Aufatmen geht durch die Reihen. Dorje nimmt seinen jungen Freund in den Arm und ich versuche die hartnäckigen Zaungäste ins Bett zu schicken. Ein hinzu gerufener Arzt sieht keine Notwendigkeit für weitere Behandlungen und ich gehe halbwegs beruhigt in die Koje.
Bereits drei Stunden später werden wir erneut aus dem Schlaf gerissen. ‚Feuer' - in unmittelbarer Nachbarschaft brennt ein Haus. Auch wenn das wirklich keine gute Nachricht ist, bin ich doch erleichtert, dass niemand aus unserer Gruppe betroffen ist. Mit dem Schlaf ist es jedoch endgültig vorbei. Mit Stirnlampe bewaffnet schreibe ich die zurückliegenden Ereignisse nieder und versuche so meinen Gedankensalat zu ordnen. Während ich im Schein der Lampe vor mich hin brüte, wird mir klar, dass wir so nicht weitermachen können. Wir müssen reden, den enormen Druck von Sonam nehmen und wieder in die Normalität zurückfinden. Auch Michael kann nicht schlafen. Wir unterhalten uns lange und ich bin froh, dass wir uns gerade in diesem Moment blind verstehen.
Montag, 07.04.03
Gegen 06.30 Uhr kommt Vijay und teilt mit, dass es Sonam wieder besser geht. Anschließend versammeln sich alle Teilnehmer in unserem Zimmer. Zu Beginn schildere ich der Gruppe was mir in den zurückliegenden Stunden durch den Kopf ging und fordere ehrliche Meinungen ein. Bei der anschließenden Diskussion kommen die Ängste und Bedenken einiger Teilnehmer zu Tage. Nicht alle sind meiner Meinung, aber jeder versteht, dass die Trauer über den Tod von Herbert nicht den Rest der Tour bestimmen darf. Vijay, der von uns allen am besten Englisch spricht, informiert Sonam und Dorje beim Frühstück über das Ergebnis unseres ‚konspirativen' Treffens. Wir brechen heute erst gegen 09.20 Uhr auf. Zuvor beobachte ich zwei Frauen, die ihre Maisernte zum Trocknen auslegen. Wir folgen einem alten Handelsweg der durch das Tal des Kaligandaki nach Südwesten führt
Die weißen Nordwände des Annapurna Himal leuchten über dem jungen Fluss, der in seinem weitläufigen Kiesbett verloren wirkt. Zwischen endlosen Mulikarawanen stolpern wir über die groben Kieswege. Ab und zu müssen wir auf den bergigen Normalweg über dem Flussbett ausweichen. Kaum zu glauben, dass dieses Bächlein während der Regenzeit zum reißenden Strom anschwillt. Um die Mittagszeit erreichen wir Jomsom (2713 m), ein vergleichsweise fortschrittlicher Ort, der wegen seines Flugplatzes von vielen Touristen als Ausgangspunkt für Trecking-touren genutzt wird. Von hier aus kann man beispielsweise bequem nach Muktinath aufsteigen. Un-sere Wuppertaler Naschkatzen haben eine weitere German Bakery entdeckt und das Weitergehen käme einer Majestätsbeleidigung gleich. Bei Kaffee und Apfelstrudel tanken wir Energie.
Wie von Maikel prophezeit bläst uns am Nachmittag ein heftiger Wind ins Gesicht und erschwert die letzte Etappe nach Marpha (2667 m). Auf dem Weg dorthin erzählt mir Stephanie von ihrem naturverliebten Vater, der in ihr die Begeisterung für die Bergwelt weckte. Gegen 13.30 Uhr erreichen wir den malerischen Ort. Unter den sorgfältig gepflasterten Straßen gibt es bereits einen Kanal und die Fassaden der stattlichen Steinhäuser sind phantasievoll verziert. Bunte Tücher wehen an den Fenstern und die schattigen Innenhöfe der zahlreichen Pensionen ziehen magisch an. Wir wohnen in der Paradies-Lodge und stellen bald fest, dass dieses gepflegtes Haus seinem Namen alle Ehre macht. Nach den Entbehrungen der letzten Tage genehmigen wir uns heute wieder ein San Miguel. Stolz erzählt Dorje von seinem Sohn, der in einem Internat untergebracht ist. Der Schulbesuch ist in Nepal noch nicht selbstverständlich und in der Regel mit hohen Kosten verbunden. Insbesondere die Kinder der mittellosen Großfamilien bleiben auf der Strecke. Dorje erzählt uns auch von seiner 5-jährigen Tochter, deren Ausbildung noch in den Sternen steht. Rally, der in seiner Heimatgemeinde sozial engagiert ist, ergreift die Initiative und wir überlegen die Kleine gemeinsam zu unterstützen.
Am späten Nachmittag trifft sich die Gruppe in einem Billardsalon. Hier scheint sich die Spannung der letzten Tage zu entladen und auch die hart-näckigen Trauerminen hellen sich nach ein paar Gläsern ‚Applebrandy' auf. Leider zwingt mich ein heftiges Augenbrennen zum vorzeitigen Abbruch. Den Abend verbringen wir im komfortablen Aufenthaltsraum der Paradies Lodge. In englischen Clubsesseln lassen wir einige kleine Gläser mit diesem leckeren Hausbrand füllen. Um 22.15 Uhr fällt der Vorhang.
Dienstag, 08.04.03
Nach der turbulenten Nacht in Kagbeni schlafe ich wie ein Stein. In einer traumhaften Kulisse auf dem Dach der Lodge würge ich zum Frühstück einen staubtrockenen Kartoffelpuffer (Schweizer Rösti) hinunter. Um 08.15 Uhr verlassen wir Marpha und bleiben weiter im holprigen Flussbett des Kaligandaki. Unterwegs sehen wir viele, meist rot und safranfarben gekleidete Pilger, die uns auf ihrem Weg nach Muktinath entgegenkom-men. Im gepflegten Gar-ten einer noblen Lodge, die an eine englische Villa aus der Kolonialzeit erinnert, machen wir eine Teepause. Über uns wächst die Ostwand des Dhaulagiri (8167 m) in den Himmel. Sonam zeigt mir den Grat, über den der Normalweg verlaufen soll. Die Wand erinnert an den Eiger und ich kann mir nicht vorstellen, dass man diesen Giganten von hier aus bezwingen kann. Nach der Pause wechseln wir auf die südliche Seite des Kaligandaki und verlassen das Flussbett. Hier erwartet uns eine anstrengende Etappe durch bergige Nadelwälder. Zwei zaundürre Träger balancieren überdimensionale Säcke auf ihren Rücken. Man fürchtet sie könnten jeden Moment umkippen. Rechtzeitig zur Mittagstunde erreichen wir die 'Pine Forest Lodge' in Kalopani. Nach dem trockenen Pfannkuchen von heute morgen bestelle ich einen vermeintlich saftigen, kühlen ‚ricepudding'. Aber was kommt, ist eine riesige Schüssel mit dampfendem Reisbrei. Der Geruch dieser leicht angebrannten Pampe katapultiert mich schlagartig in meine frühe Kindheit zurück. Wann habe ich zuletzt einen Reisbrei gegessen? Nachdem ich mich gedanklich von der erfrischenden Nachspeise befreit habe, kann ich diesen Reisbrei in Gedenken an Mama bis auf den letzten Löffel genießen. Weiter geht es am Rande einer tiefen Schlucht. Mehr als 100 m unter uns gleicht der Kaligandaki jetzt einem Wildbach. Ein steiler Abstieg führt uns in das enge Tal zurück.
Schwerbeladene Pilger, darunter auch viele alte Frauen, quälen sich den steilen Weg hinauf. Einige unter ihnen wägen jeden Schritt ab. Außer Atem und am Rande ihrer physischen Belastbarkeit wirken diese Menschen doch fröhlich. Wieder braut sich am Nachmittag ein Gewitter zusammen. Die ersten Regentropfen überraschen uns kurz vor dem Ziel. Meine eilig übergestreifte Regenhaut bleibt jedoch trocken. Gegen 15.45 Uhr mieten wir uns in einem Vorort von Ghase (2013 m) ein. Zu unserem Nachtlager müssen wir einen Hinterhof überqueren, den sich allerlei Geflügel, ein Büffel und ein Hund teilen. So ist immer für eine natürliche Geräuschkulisse gesorgt. Petrus scheint uns im Augenwinkel zu beobachten. Unmittelbar nach unserer Ankunft geht ein kräftiger Regen nieder. Mit einem San Miguel in der Hand können wir uns auf dem überdachten Balkon entspannt zurücklegen. Michael erzählt von seinem Husky und wenn man ihm so zuhört, dann könnte man meinen er schwärmt von einer alten Freundin. Meine Nasenflügel brennen wie Feuer und ich packe auf dieser Reise zum ersten Mal die Herpessalbe aus. Zum Abendessen gibt es ungesalzenen Kartoffelbrei mit Yak-Käse.
Über ein großes Wandgemälde, auf dem Shiva und Ganesh zu sehen sind, kommen wir auf den hinduistischen Glauben zu sprechen. Vijay erzählt uns die schaurige Legende um den enthaupteten Findelsohn Ganesh, der fortan mit dem Kopf eines Elefanten weiterleben musste. Die kitschige Geschichte passt zu den naiven Bildern dieser Religion. Nein, zum hinduistischen Glauben finde ich keinen Zugang. Leicht fiebrig mache ich gegen 21.00 Uhr die Augen zu.
Mittwoch, 09.04.03
Nach einem weiteren Applepancake schnallen wir gegen 07.30 Uhr den Rucksack auf. Über den feuchten Gerstenfeldern steigt Nebel auf und die letzten Regentropfen lösen sich in der Morgensonne rasch auf. Auf meinen Nasenflügeln zeichnen sich die ersten Spuren meines alt vertrauten Hautleidens Herpes Simplex ab. Das soll mich heute nicht weiter belasten. Die Luft ist klar und hier auf 2013 m sind die Temperaturen noch erträglich. Wieder folgen wir dem alten Pilgerweg nach Süden und passieren verträumte Dörfer mit buckeligen Pflasterstraßen. Wilde Hanfkulturen, Farne und Distelsträucher säumen den steinigen Weg. Wir begleiten den Kaligandaki auf seinem Weg ins Tal. Nach einer Hängebrücke bei Bhalebas erreichen wir den mehrfach angekündigten Waterfall.
Unter bunten Sonnenschirmen werden hier frische Zimtschnecken aufgetragen. Dazu gibt es eine eiskalte Coke und ich beginne mehr und mehr nach den gewohnten Früchten westlicher Zivilisationen zu greifen. Die wildromantische Backstube in der Nähe der Sonnenterrasse gleicht einem Hühnerstall. German Bakeries gibt es wie Sand am Meer. Fast könnte man sie mit den Döner Buden in Deutschland vergleichen. Drei neugierige Mehlwürmer in bunten Kleidern spielen auf der Veranda vor der Backstube. Ohne Scheu bauen sie sich vor meiner Kamera auf. Touristen und Fototermine gehören zu ihrem Alltag und ich frage mich was in den Köpfen dieser neugierigen Kinder vorgeht. Was mögen sie über die blassen Millionäre denken, die wie Außerirdische durch ihr einfaches Leben hasten. Zur Mittagszeit erreichen wir Dana, ein einladender Ort mit kleinen Geschäften und Restaurants. Die Speisekarten sind hier bereits mehrseitig und die Folgen der Treckingtouren sind unübersehbar. Wieder habe ich Probleme mit einer Augenentzündung, weshalb ich die Nahrungsaufnahme verweigere und in einer ruhigen Ecke auf die Wirkung der Augentropfen warte. Vergeblich, bis Tatopani (1189 m) klebe ich wie ein Blinder an Michaels Fersen. Dort angekommen, beginne ich langsam wieder klar zu sehen.
Prächtige Häuser mit verspielten Fassaden, mediterrane Gärten und eine farbenprächtige Souvenir-meile verleihen Tatopani den Charakter eines gepflegten Kurstädtchens. Wenige Tage nach den kargen Steinwüsten des Trans Himalaja wird man in dieser asiatischen Toskana regelrecht verzaubert.Orangenbäume und Bananenstauden überschatten den blühenden Garten der Lodge. Im Norden scheint der mächtige Dhaulagiri durch ein Gemisch aus Dunst und Wolken. Fast gespenstisch thront er über dem Tal des Kaligandaki. Regenwälder und Hügelketten reihen sich wie in einem Scherenschnitt aneinander. Vor dieser Kulisse lehnen wir uns in Korbstühlen zurück und probieren die überdimensionalen, quietschsauren Mandarinen aus dem Garten der Lodge. Das Leben kann so schön sein.
Am späten Nachmittag gehen wir gemeinsam an das Ufer des Kaligandaki. Dort sprudeln die berühmten heißen Quellen von Tatopani. Einheimische, Pilger und westliche Touristen bevölkern einen kleinen Badeplatz. Aus zwei simplen Becken (ca. 5 x 5 m x 80 cm) steigt heißer Dampf auf. Interessant ist die Bademode dieser Multi-Kulti-Gesellschaft. Hochgeschlossene Seidenkleider, bauschige Pluderhosen und knappe Tanga-Slips, hier ist alles vertreten. Ohne Zweifel ist jedoch unser Bodybuilder Tommy der unumstrittene Star dieses Spektakels. Wie ein weißer Riese erscheint er am Beckenrand, lässt seine Muskeln spielen und zieht die neidischen Blicke der schmächtigen Nepalesen auf sich. Rally wird im Freien rasiert und einige Mutige lassen sich in einer Schilfhütte massieren. Wie würde das wohl in Deutschland ablaufen. Vermutlich hätte man an dieser Stelle längst ein Kurzentrum mit Erlebnisbad, Wandelhallen und Wellness-Bereich errichtet.
Weißgekleidete Bademeister würden sich um schrullige Damen kümmern und spritzende Kinder zur Ruhe ermahnen. Nein, mir gefällt dieser überschaubare Badeplatz wesentlich besser. Die Wassertemperatur beträgt fast 40 Grad und nur die knallharten Wasserratten halten es mehrere Minuten unter Wasser aus. Über die roten Gesichter einiger Besucher rollen dicke Schweißperlen. Trotz dieser erschwerten Umstände kreisen die St. Miguel Flaschen und ich wundere mich wieder über die trinkfesten Wuppertaler. Schon nach der ersten Flasche fahre ich Karussell. Nach der zweiten Runde verabschiede ich mich vorzeitig zum wohlverdienten Mittagsschlaf. Das Abendessen im mediterranen Garten der Himalaja-Lodge ist ein weiterer kulinarischer Höhepunkt auf dieser Tour. Neben den typischen Gemüse-Curries werden Steaks mit Pommes, italienische und mexikanische Spezialitäten aufgetragen. Bei einigen sind die Augen wieder größer als der Magen und Dorje bekommt alle Hände voll zu tun. Nach der fünften Portion winkt er schweren Herzens ab. Ich genieße diesen lauen Abend, den Sternenhimmel und die ausgelassene Stimmung in der Gruppe. Um 22.15 Uhr fallen mir die Augen zu.
Donnerstag, 10.04.03
Um 07.30 Uhr treffen wir uns wieder und es gibt ein königliches Frühstück mit französischen Croissants und Marmelade, fast wie daheim. Ein dichter Wolkenteppich zieht über das Tal und die verwöhnten Sonnenanbeter legen ihre Stirn in Falten. Heute müssen wir fast 1700 Höhenmeter überwinden. Laut Maikel ist der Aufstieg von Tatopani nach Gorepani neben der Passüberquerung die schwierigste Etappe. Obwohl ich relativ gut geschlafen habe, fühle ich mich heute kraftlos und ausgelaugt. Um 08.45 Uhr brechen wir auf und folgen zunächst dem Kaligandaki nach Süden. Schon nach wenigen Kilometern überqueren wir den Fluss über eine alte Hängebrücke und schwenken nach Südosten in das Tal des Ghar Khola ein. Von nun an geht's bergauf. Ein schmaler Pfad schlängelt sich durch einen kleinen Ort und wir gewinnen schnell an Höhe. Mit Blei in den Knochen quäle ich mich über endlose Steintreppen. Obwohl ich ständig trinke, nagt ein immerwährender Durst an mir.
Ich beneide Michael und die beiden Wuppertaler um ihre mobilen Wasserleitungen. Auf der nächsten Tour werde ich mich auch mit einem dieser praktischen ‚Urinbeutel' ausrüsten. Wir erreichen den Green View und legen auf einer Aussichtsterrasse die erste Verschnaufpause ein. Im Norden sehen wir zum letzten Mal das ausgedehnte Tal des Kaligandaki. Von nun an folgen wir dem Ghar Khola, der sich durch Laubwälder und Reisterrassen windet. Am Horizont treiben ausgefranste Nebelbänke. Ich hänge mich an die Fersen von Tommy. Er erzählt mir von seiner Tochter, die er nur selten sieht aber trotzdem über alles liebt. Durch das Gespräch ablenkt, vergesse ich für eine kurze Zeit meine Müdigkeit.
Zwischen alten Bäumen, Agaven und Reisterrassen steigen wir auf steinigen Wegen weiter auf und erreichen ‚Mikels Lodge'. Unter uns breiten sich goldgelbe Gerstenfelder aus. Sie umschließen malerische Dörfer und man fühlt sich in die spätsommerliche Auvergne versetzt. Obwohl ich mich mit einem Snickers stärke, komme ich nach dieser Trinkpause nur schwer auf Touren. Schon nach wenigen Metern rinnt mir wieder der Schweiß in die Augen. Wir passieren einige alte Siedlungen und beobachten Hindus, die sich mit religiösen Gesängen auf ein bevorstehendes Fest vorbereiten. Aus einer Bambushecke stapfen urplötzlich drei massige Büffel auf uns zu. Die friedlichen Dickhäuter schwenken direkt vor mir in den Weg ein und ich halte für einen Moment den Atem an. Gleichgültig traben sie eine Weile vor mir her und ich wundere mich über die Geschwindigkeit dieser schwerfälligen Tiere. In Shika finden wir eine von Mauern umgebene Lodge mit Innenhof. Unter einem Sonnensegel gibt es hier wieder den würzigen Yak-Käse. Ein altes Ehepaar beobachtet uns ausgiebig. Ihre Blicke wandern von einem zum anderen und nach einer Weile beginnen sie sichtlich amüsiert zu tuscheln. Für un-sere Zaungäste scheint der Faktor Zeit keine Rolle zu spielen. Sie lassen sich auch gerne fotografieren und deuten mir unmissverständlich an, dass ich im Gegenzug eine Zigarette spendieren könnte. Ich bezahle meine zahnlosen Models und mache einen kleinen Spaziergang durch das urige Dorf. Büffel, Ziegen und Hühner teilen sich die Gassen. Wäsche flattert an den Leinen und die meist betagten Bewohner gähnen mit ihren Hunden um die Wette. Dunkle Wolken ziehen auf und im Südosten zucken Blitze. Auf dem Weg nach Gorepani fallen die ersten Regentropfen und ich versuche meinen antiken Regenumhang überzustreifen. Michael hilft mir dabei. Rundum gummiert brate ich bald im eigenen Saft. Diese verdammten Treppen scheinen kein Ende zu nehmen und ich beginne langsam aber sicher die Lust zu verlieren. Zwischen Nebelschwaden ragen die ersten Rhododendren-Bäume in den Himmel. Ihre bizarren Formen wirken wie die Kulisse eines Horrorfilmes. Um 18.30 Uhr komme ich als einer der letzten nach Gorepani (2858 m). Abgekämpft und ausgetrocknet schleppe ich meinen Rucksack durch den engen Treppenaufgang der Namaste-Lodge und lasse mich erlöst auf das Bett fallen. Wo bin ich hier hingeraten? Unter mir ein ausgebleichter PVC-Boden, über mir eine graue Plastikplane und rundherum Blechwände, die man hinter rohen Sperrholzplatten versteckt. Unweigerlich muss ich an die hässlichen Wohncontainer auf Großbaustellen denken. Der gesamte Ort scheint aus diesen Konservenbüchsen zu bestehen. Dächer, Türen, Fensterrahmen und Zäune leuchten in einem aufdringlichen Stahlblau. Nein, dieses Gorepani kann sich bei Gott nicht mit den verträumten Bergdörfern der Hochebenen messen.
In einem unbeleuchteten Blechverschlag an der Straße kann man warm duschen, sofern man eine Stirnlampe besitzt. Die Gruppe finde ich um ein altes Ölfass versammelt. Dieses zum Ofen umfunktionierte Fass steht in der Mitte des Aufenthaltsraumes und strahlt eine Affenhitze ab. Unter feuchten Kleidern breitet sich eine lähmende Müdigkeit aus. Die Augen auf Halbmast, kämpfen die Ersten bald mit dem Schlaf. Immer wieder fällt der Strom aus und der Wirt hängt einen fauchenden Bunsenbrenner auf. Nur mit Mühe würge ich eine Flasche Bier hinunter. Obwohl ich keinen Hunger verspüre, bestelle ich ‚potato momos'. Ein Fehler wie sich bald herausstellt. Die öligen Teigtaschen geben mir den Rest und ich gehe mit einem rebellierenden Magen ins Bett. Todmüde und hellwach versuche ich die emotionalen Wechselbäder der letzten Tage auf die Reihe zu kriegen. Michael spürt meinen Frust und fragt nach der Ursache. Ja, was treibt mich eigentlich um? Warum bin ich so matt und ruhelos? Ich kann ihm keine Antwort geben. In diesen Momenten würde ich gerne unter eine vertraute Decke kriechen.
Freitag, 11.04.03
Eine kurze, unruhige Nacht, in der man auch das Stöhnen und Schnarchen aus der dritten Reihe hört, endet kurz nach vier Uhr. Stephanies Wecker schnarrt und im gleichen Moment beginnt das große Rascheln. Reißverschlüsse werden aufgezogen, Wasserflaschen klimpern und Blechtüren scheppern. Auf dem Flur blitzen Stirnlampen auf und ich muss an die Massenlager in den Schweizer Hütten denken. Wir treffen uns vor der Lodge und Sonam beschreibt uns den Weg auf den Poon Hill. Gegen 04.30 Uhr stolpern wir im Gänsemarsch durch das unbeleuchtete Gorepani. Zwischen Bambushecken und Rhododendrenwäldern schlängelt sich ein schmaler Pfad nach oben. Wieder liegen unzählige Treppenstufen vor uns. Mein Mund ist trocken und mein Magen zieht sich bei jedem Schritt krampfartig zusammen. Mein Körper stemmt sich gegen jede Anstrengung und ich versuche eine über den Kehlkopf aufziehende Übelkeit hinunterzuschlucken.
In der beginnenden Dämmerung erkennt man erste Umrisse und über den Horizont kriecht ein fahles Licht. Endlich, gegen 05.20 Uhr erreichen wir den Scheitel des Poon Hill (3194 m). Wir sind die erste Gruppe, werden aber schon von einem rührigen Kioskbetreiber erwartet. Es gibt Tee, Kaffee und Schokoriegel. Das Gipfelplateau des Poon Hill hat die Größe eines Handballfeldes. Im Zentrum steht ein wuchtiger Aussichtsturm. Diese hässliche und vollkommen überflüssige Stahlkonstruktion stört. Über Rhododendrenbäumen taucht die weiße Südflanke des Dhaulagiri auf. Im Nordosten blicken wir in die lang gestreckte, dunkelgraue Breitseite der mächtigen Annapurna Range. Ein schlafender Drache, der seine nackten Köpfe in den Morgenhimmel streckt. Die aufgehende Sonne zieht eine feine, leuchtende Linie über die kilometerlange Bergkette und vor einem rotglühenden Himmel zeichnet sich der markante Fischschwanz des Machhapuchhre (6993 m) ab. Zusammen mit mehr als 100 Touristen aus allen Teilen der Welt erlebe ich dieses faszinierende Naturspektakel, sehe wie der glühende Feuerball über den heiligen Berg wandert und der dunkelgrauen Wand des Annapurna für einen kurzen Augenblick Gestalt verleiht, um dann im aufziehenden Morgendunst zu verschwinden. Dorje hat sich ein hellblaues Handtuch um den Kopf gewickelt und eine Stirnlampe übergeschnallt. Wie ein aufgedrehter Grubenarbeiter springt er von einem zum anderen und verbreitet gute Laune. Für die Fotografen lehnt er sich gegen den baumlangen Rally. Mit dem Machhapuchhre im Hintergrund wird das ohne Zweifel ein Bild für die Götter. Ohne diesen quirligen Tausendsassa, den mittlerweile jeder ins Herz geschlossen hat, wäre diese Tour undenkbar. Die Stimmung in der Mannschaft ist gut. Am Ende unserer großen Runde schwindet die Angst vor dem Ungewissen und an ihre Stelle tritt das Glück des Marathonläufers auf der Zielgeraden. Die Morgensonne bringt das kräftige Rosarot der Rhododendrenblüten zum leuchten. Hungrig steigen wir nach Gorepani ab. Fast wehmütig trinke ich eine heiße Schokolade und esse den letzten applepancake dieser Tour.
Um 08.00 Uhr brechen wir zum langen Marsch nach Naya Pul auf. Wir folgen den verschlungenen Pfaden durch den dschungelartigen Rhododendrenwald. Fast könnte man meinen in einem riesigen Treibhaus eines botanischen Gartens zu wandeln. Der modrige Geruch feuchter, bemooster Baumstämme vermischt sich mit dem Duft unzähliger Blüten. Von den gewaltigen Kronen, die mehr als 20 m über uns in allen Farben leuchten, baumeln ausgefranste Lianen. Armdicke Wurzelgeflechte winden sich über den Weg und bringen den ein oder anderen ‚Hans guck in die Luft' ins Stolpern. Nach dem Rhododendrenwald folgen wir einem schattigen Hohlweg. Im Geleit mogelt sich ein verträumter Wildbach über abgestorbene Baumstämme und Felsbrocken. Steil aufragende Wände, Grotten und Wasserfälle sorgen immer wieder für Abwechslung. Nach einer knappen Stunde verlassen wir den wohltuenden Schatten und blicken über ein Meer von ockerfarbenen Reisterrassen. Fast 1000 m tiefer zeichnet der Bhurungdi Khola seine feine Linie. Bevor wir in diesen Schlund absteigen, legen wir eine letzte Rast ein. Gestern mussten wir über kraftraubende Treppen nach Gorepani aufsteigen und heute kämpfen wir im Abstieg erneut mit unzähligen Stufen. Die Oberschenkel brennen und die Kniegelenke beginnen zu zittern. Am Ende dieser Steinkonstruktion atmen auch die hartgesottenen Wuppertaler erleichtert auf.
Wir überqueren den Bhurungdi Khola über eine weitere Hängebrücke und folgen ihm bis Tirkhedhunga. Dort füllen wir unsere leeren Batterien auf. Im Schatten einer Weide schlinge ich eine große Portion fried noodles hinunter. Nach dem Essen geht es heute gleich weiter. Auf dem Weg nach Naya Pul sehen wir viele Hindus, die uns oft sehr gleichgültig begegnen. Ich vermisse den offenen Blick und die gewinnende Neugierde der Berg-bewohner. Unverkennbar hat hier der Fremdenverkehr sei-ne Spuren hinterlassen. In der Talsohle sind die Felder nicht so ausgetrocknet. Ich kann mich gar nicht satt sehen an diesem kräftigen Grün der Wiesen. Kleine Bäche und Wassergräben bahnen sich den Weg zum Fluss. Unter den Augen ihrer wachsamen Mütter baden Kinder zwischen meterhohen Felsbrocken. Ein alter Mann trägt einen Gitterkorb mit aufgeregten Hühnern durch die Gegend. Während ich diesem nepalesischen Tiertransporter nachsehe, rechne ich nach wie lange ich kein Auto gesehen und kein Motorengeräusch gehört habe. Nein, hier wird alles mit Muskelkraft bewegt. Streckenweise verläuft der Weg im Flussbett. Wir klettern über abgeschliffene Felsbrocken und balancieren über plätschernde Stromschnellen. Dunkle Wolken ziehen auf und bald verdampfen die ersten Regentropfen auf der warmen Erde. In Birethanti müssen wir unser Permit zum letzten Mal vorlegen. Von hier aus soll es nur noch ein Katzensprung sein. Eine halbe Stunde später laufen wir durch den schmuddeligen Markt von Naya Pul (1563 m). Hier pulsiert das Leben und der Lärmpegel steigt kräftig an. Wie betäubt schleppe ich mich durch den Ort und steige den Hüttenschinder zur Fahrstraße hinauf. Michael, Sonam und die Wuppertaler Kraftpakete nehmen mich johlend in Empfang. Natürlich gibt es sofort ein San Miguel und ich freue mich über das Ende dieser aufregenden Schinderei. Nach und nach treffen die müden Krieger ein und jeder wird gefeiert. Zuletzt stellt unser Kindermädchen Dorje seinen schweren Rucksack ab und demonstriert übermütig seine Kraftreserven, in dem er unseren langen Kerl in die Höhe stemmt. In diesem Moment gibt es keine Außenseiter und wir verschmelzen für ein paar Minuten zu einem ‚winning team'. Mit drei klapprigen Taxen gondeln wir über kurvige Bergstraßen nach Pokhara.
Um 17.30 Uhr nimmt uns ein strahlender Maikel vor dem New Solitary Hotel in Empfang. Die hartnäckigen Taxifahrer versuchen den Fahrpreis in die Höhe zu treiben. Nach langwierigen Verhandlungen treffen wir uns irgendwo in der Mitte und bezahlen schließlich 800 Rupien pro Fahrzeug. Im Salon des Hotels gibt es ein kühles Blondes und eine gute Yak-Cigarette und schon ist die Welt wieder in Ordnung. Den Tag beschließen wir im American Steakhouse. Wie von Tommy und Rally herbeigesehnt und auf der Tour in allen Farben beschrieben, rollen hier die saftigen Steaks an. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein besseres Fleisch gegessen zu haben. Nach drei vegetarischen Wochen fordert diese Völlerei ihren Tribut. Die ersten Magenkrämpfe folgen auf dem Fuße und zwingen mich schließlich zur Aufgabe. Schweren Herzens muss ich das halbe Rind auf dem Teller zurücklassen. Tommy kann es nicht fassen und hätte am liebsten nach der berühmten Feder gerufen. Maikel erzählt uns von seinen endlosen Tagen und schlaflosen Nächten in Katmandu. Er ist froh wieder in einer Gruppe zu sein, froh endlich über seine unterdrückten Gefühle reden zu können. Noch einmal tauchen die schmerzhaften Bilder auf. Wir denken an Herbert und bedauern, dass er diesen Abend nicht miterleben kann. Kurz nach Mitternacht werden in Pokhara die Gehsteige hochgeklappt. Im diffusen Licht der Leuchtreklamen traben wir hundemüde durch die nahezu menschenleere Stadt und suchen den direkten Weg zum Hotel. Bevor wir uns aber endgültig auf die Matratzen zurückziehen, gibt es für den harten Kern einen letzten Absacker im Hotelgarten.
Samstag, 12.04.03
Heute haben wir alle Zeit der Welt und können uns entspannt in Pokhara umsehen. Mit 110.000 Einwohnern gewinnt diese aufstrebende Stadt immer mehr an Bedeutung und zählt heute neben Katmandu zu den wichtigsten Touristenmetropolen. Umgeben von einer traumhaften Landschaft wirkt Pokhara weit weniger chaotisch aber auch farbloser wie die Hauptstadt Nepals. Südöstlich der Stadt erstreckt sich der 4 km² große Fewa-Lake. Laut einer Legende soll ein verärgerter Gott die hartherzigen Bewohner eines Dorfes mit einer Flut bestraft haben. An Stelle dieses Dorfes sei dann dieser malerische See ent-standen. Bei guter Sicht spiegelt er die Gipfel der Dhaulagiri-Kette wider. Nach einem ausgiebigen Brunch im Freien steuere ich mit meinem Pfälzer Schatten den nächstbesten Barbier an. Wie bereits in Tatopani beschlossen, sollen heute die grauen Stoppeln geopfert werden. In einer ca. 6 m² großen, grell tapezierten Bude lachen uns die Bilder unzähliger, zufriedener Kunden an
Zwei magere Friseure indischen Aussehens schleichen wie die Katzen um ihre Sitze und wetzen bereits ihre scharfen Rasiermesser. Wie Halsabschneider sehen die beiden nicht aus und größere Blutspuren kann ich auch nicht entdecken. Einigermaßen beruhigt lasse ich Michael trotzdem den Vortritt. Er wird gepudert, gekrault und massiert. Ein schwerer, süßlicher Duft liegt in der Luft, das Messer blitzt auf und der Schaum spritzt nach allen Seiten. Nach einer knappen Stunde werden zwei aalglatte Herren in die Freiheit entlassen. Wir lassen das geschäftige Mahendrapul im Zentrum von Pokhara links liegen und suchen die Ruhe am Ufer des Fewa-Lake. Kinder spielen vor bunten Fischerbooten, ein junger Mann seift sich von Kopf bis Fuß ein und dazwischen leuchten leere Flaschen und Plastiktüten in der Morgensonne. Auch wenn man diesen Strand nicht mit den Müllhalden von Kathmandu vergleichen kann, so sind die Schattenseiten einer fortschreitenden Wegwerfgesellschaft auch in Pokhara unübersehbar. Um die Mittagszeit treffen wir Tom und Rally im American Steakhouse. Mit einer weiteren Mammutportion Rindfleisch beugen sie einem bleibenden Gewichtsverlust vor. Den Nachmittag verbummeln wir gemeinsam im Zentrum der Stadt.
Gerade noch rechtzeitig laufen wir zum gemeinsamen Lunch im Palmengarten ein. Das luftige Restaurant erinnert an die Teehäuser im Norden Thailands. Neben fruchtigen Drinks und einer guten Küche zeichnet sich der Betreiber durch seinen guten Musikgeschmack aus. Hier lerne ich die phantastischen Songs der Norah Jones kennen. In den Pausen dringt die Musik eines benachbarten Schuppens durch das angrenzende Blechdach. Nach genauerem Hinhören erkenne ich meinen alten Freund Bob Dylan. In seiner unverkennbaren Art quengelt er die Hymne ‚Knockin´On Heavens Door'. Den Abend beschließen wir im Hardrockcafe von Pokhara. In einem kleinen Schuppen, der sich mit fremden Federn schmückt, müht sich eine Cover-Band redlich ab. Carlos Santana, Bob Marley und Mick Jagger, hier wird keiner verschont. Ich muss an die talentierten Straßenmusikanten von Chiang Rai denken. In ihrer überschwänglichen Art verpacken diese asiatischen Minnesänger auch ernste Balladen in heitere Melodien. Sonam amüsiert sich über Maikel, der sich entspannt zurücklehnt und kräftig mitträllert. ‚No woman, no cry' – mit dieser alten Reggae-Klamotte im Ohr, schlafe ich in dieser Nacht beschwingt ein.
Sonntag, 13.04.03
Heute kehren wir in die Hauptstadt Nepals zurück. Mit einem kleinen, relativ komfortablen Bus werden wir nach dem Frühstück direkt am Hotel abgeholt. Vor uns liegen ca. 200 Km und fünf Stunden Fahrzeit. Nördlich des Narayani passieren wir Gate, Damauli und Mugling. Im ‚Blue Heaven Restaurant' unterbrechen wir den mobilen Saunagang für eine knappe Stunde. Am frühen Nachmittag erreichen wir das Kathmandu Valley und quälen uns zwischen abenteuerlichen Lastwagen über die kurvenreiche Achterbahn. Auch heute halte ich ab und zu die Luft an, wenn unser nepalesischer Kapitän, der offensichtlich über ein gesundes Gottvertrauen verfügt, nach einem kurzen Hupen auf die Überholspur wechselt. Schweißgebadet steigen wir im Hexenkessel von Kathmandu aus. Hitze, Lärm und Gestank erschweren den Fußmarsch nach Thamel. Bevor wir im Hotel unsere deponierten Koffer übernehmen, gibt es noch einen kühlen Drink.
Nach einer kalten Dusche und einer ausgiebigen Siesta, verbringe ich den Rest des Tages mit Michael in Thamel. Zum Abendessen treffen wir uns mit dem Rest der Truppe im ‚Roadhouse'. Hier gibt es riesige, üppig belegte Pizzen und nach zwei Wochen das erste Glas Rotwein. Maikel klärt die letzten Formalitäten und wir besprechen das Programm für den nächsten Tag. In diesem Chaos ist es gut, wenn man Leute kennt die einen Plan haben. Nach dem schon fast vertrauten Einkehrschwung ins New Orleans schlägt auch für den harten Kern die Stunde.
Montag, 14.04.03
Nach drei Wochen Natur pur starten wir heute zum kulturellen Alternativprogramm. Gegen 07.30 Uhr werden wir von der quäkenden Stimme des Hotelportiers aus den Träumen gerissen. ‚Good morning Sir, it´s time to stand up' – mit verschwollenen Augen trotte ich hinter dem erstaunlich munteren Maikel in den Palmengarten und würge einen staubtrockenen Kartoffelpuffer hinunter. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Nach der zweiten Tasse Milchkaffee kehren meine verschollenen Lebensgeister zurück und ich sehe der Sightseeing-Tour mit Spannung entgegen. In Thamel ordern wir ein Taxi und fahren ca. 5 Km in den Osten der Stadt. Dort angekommen treiben wir in einem Strom von Pilgern in den Hindu-Tempelkomplex Pashupatinath.
Am Ghat für königliche Kremationen vor dem Tempel des Shiva steigt blauer Rauch in den Morgen-himmel. Zwei spärlich bekleidete Männer schichten getrocknete Blätter auf einen brennenden Scheiterhaufen. Über die Tempelstufen rinnt eine milchige Flüssigkeit in den verschmutzten Bagmati-River, der in giftigen Farben leuchtet. Kinder baden in dieser Kloake und sammeln Plastikflaschen ein. In einer für europäische Zaungäste seltsam anmutenden Zeremonie wird eine weitere Leiche mit Blumen geschmückt und so für die Verbrennung vorbereitet. Eine junge Frau bricht unvermittelt in Tränen aus und ich beginne meine Rolle in diesem Spektakel zu überdenken. Ich stelle mir einen heimischen Friedhof vor, eine Beerdigung und jede Menge ‚japanische Kameramänner', die unbekümmert um die Trauergemeinde tanzen. Der Geruch von Tod und Fäulnis steigt mir in die Nase. Nichts wie weg hier.
Auf der Treppe zum Gorakhnat-Tempel stellen sich zwei furchterregende Sadhus in Pose. Für 20 Rupien schauen sie geduldig in meine Linse. Ein völlig anderes Szenario empfängt mich auf dem Vorplatz des Tempels. Klatschende Pilger in safranfarbenen Kleidern umringen Tänzerinnen, die sich in religiöser Ekstase winden. Ein Sadhu brummelt rhythmische Gebete in ein Mikrofon. Begleitet wird er von Trommeln und einem asiatischen Tasteninstrument, das man am ehesten mit einem Harmonium vergleichen kann. Hier pulsiert das Leben und ich fühle mich gleich wieder besser. Wir sammeln uns und steigen die Stufen zum Guhyesvari einem wie-teren Tempel hinunter. Jenseits des Bagmati-Rivers leuchtet in der Ferne die schneeweiße Kuppel des buddhisti-schen Tempels Bodhnatunser nächstes Ziel. Die hoch stehende Mittags-sonne erschwert den halbstündigen Fußmarsch durch das schmucklose Guhyesvari. Ein staubiger Weg mit unzähligen Schlaglöchern teilt die meist zweistöckigen Häuser, über deren Flachdächern wieder rostige Baustähle in den Himmel ragen. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Stadtteil während der Regenzeit im Schlamm versinkt. Schweißgebadet erreichen wir die legendenumwobene Tempelanlage. Mit seinen 40 m Durchmesser zählt die Stupa zu den größten buddhistischen Bauwerken der Welt. Über der mächtigen Kuppel, die in ihren Grundrissen einem tibetischen Mandala gleicht, strahlen die Augen Buddhas. Aus allen Lautsprechern klingt das vertraute ‚Om mani padme hum'. Die tiefen Basstöne bringen die wuchtige Kuppel zum Schwingen und man könnte meinen den Herzschlag Nepals zu hören. Kein Wunder, dass dieser spirituelle Ort dem einen oder anderen Besucher eine Gänsehaut auf den Nacken zaubert. Hier treffen wir auch unsere Jungs aus dem Ruhrpott wieder. Ein Taxi bringt uns schließlich zum Durbar Square im Herzen der Stadt. In den verwinkelten Gassen finden wir ein Sammelsurium an Statuen, Tempel- und Palastanlagen.
Zu Beginn besichtigen wir das Haus der Kumari Devi, ein düsterer mit Schnitzereien verzierter Palast mit einem kleinen schmucklosen Innenhof. Hinter den vergitterten Festern im Obergeschoss suche ich vergeblich nach dem blassen Gesicht der einzig lebenden Göttin Nepals. Seit Generationen werden hier Mädchen im Alter von zwei bis vier Jahren ausgesucht, zur Göttin erklärt und fortan in diesen Mauern von der Außenwelt abgeschottet. Die göttliche Rolle wird automatisch neu besetzt, wenn die amtierende Kumari blutet. Auch wenn diese armen Würmer einmal im Jahr durch Katmandu getragen, bewundert und gefeiert werden, möchte ich unter diesen Umständen doch lieber Mensch bleiben, zumal diese Göttinnen nach ihrer Blutung schlagartig in die Bedeutungslosigkeit stürzen. Rund um den Königsplatz wachsen die Türme der Hindu-Tempel wie die Pilze aus dem Boden. Die ziegelgedeckten Dä-cher der Pagoden ruhen auf reich verzierten Balken. Nur mit Mühe kann ich mich in diesem histo-rischen Irrgarten orientieren. Rund um den zentralen Tanzhof Nasal Chowk scheinen die beiden Weltreligionen miteinander zu verschmelzen. So wird das furchterregende Fresko Kala Bhairav von Hindus und Buddhisten gleichermaßen verehrt. Im Vorbeigehen steigen Gläubige auf den Sockel des schwarzen Dämons und beschmieren sein Gesicht mit Sindur, einer roten Paste. Er soll sie vor Tod und Unheil schützen. Die westlichen Touristen sind an dieser heiligen Stätte eindeutig in der Minderzahl und werden von den Pilgern kaum beachtet. Nur die bunt bemalten Sadhus schleichen wieder um die zahlende Kundschaft. Maikel führt uns über einen imposanten Markt, der die Herzen eines jeden Souvenirjägers höher schlagen lässt. Von den Kulturschätzen Katmandus regelrecht erschlagen, ziehen wir uns in ein kleines Kaffee in der Freak-Street zurück.
Das heruntergekommene Etablissement erinnert an vergangene Zeiten, als dieser Stadtteil das Zentrum für Aussteiger und Lebenskünstler war. Wie wir von Maikel erfahren, hat sich die Szene nach Thamel verlagert. Nach zwei eiskalten Zitronensäften ist der größte Durst gestillt. Die Gruppe löst sich auf und ich gehe mit Michael durch die belebten Gassen der Altstadt nach Thamel zurück. Hier gibt es das versprochene Abschiedsessen im International Guest House. Nach einer feudalen Reispfanne und einem tibetischen Raksi von Dorje überrascht uns Sonam mit einer bewegenden Rede. Fast fünf Minuten schildert er seine Gefühle, Ängste und Freuden. Am Ende schließt er seinen großen Bruder Maikel Dai in die Arme und bindet jedem Teilnehmer einen seidenen Glücksbringer um den Hals. Hierbei lässt der scheue Guide sogar eine vorsichtige Umarmung zu. Dorje versucht unterdessen den Rest seines tibetischen Raksi unters Volk zu bringen.
Das ist die Stunde unserer nepalesischen Begleiter, in der es auch den Kritikern für einen Moment die Sprache verschlägt. Auf der Dachterrasse eines Restaurants erleben wir an unserem letzten Abend das nepalesische Neujahrsfest. Eine Band spielt amerikanische Evergreens und die schüchternen Nepali bleiben zunächst brav auf ihren Plätzen. Das ändert sich schlagartig, als die Jungs nepalesische Schlager einstreuen. Bald stehen die ersten Sänger auf der Matte und im gleichen Moment verlagert sich das Geschehen auf die Tanzfläche. Jetzt geht die Post ab, denke ich bei mir. Doch schon eine halbe Stunde später ist der Spuk vorbei. Es ist Mitternacht und wir warten gespannt auf den Knalleffekt. Umsonst, wie ferngesteuert verkriechen sich die wilden Tänzer wieder hinter ihren Frauen. Das Lokal leert sich und die Musiker packen ihre Instrumente ein. Aha, das war's also? Auf der Straße brennen ein paar betrunkene Jugendliche die letzten Böller ab und uns bleibt wieder einmal nur der Cocktail im New Orleans. Zusammen mit Maikel und Michael lasse ich den Abend auf dem Flachdach des International Guest House ausklingen, unter uns die schummrigen Gassen von Thamel, über uns der Sternenhimmel.
Dienstag, 15.04.03
Heute krieche ich schon vor dem ersten Hahnenschrei aus den Federn. Michael schläft wie ein Toter und ich schnalle mir nach einer Katzenwäsche den Tagesrucksack um. Mike und Stephanie warten bereits vor dem Hotel und wir marschieren gemeinsam durch die verschlafene Stadt. Wie am Abend zuvor besprochen, wollen wir zur buddhistischen Stupa Swayambhunath aufsteigen und den Sonnenaufgang über Katmandu erleben. Wir gehen nach Westen und durchqueren den ärmeren Teil Thamels. Zwischen den maroden Häusern sucht man hier vergeblich nach bunten Marktständen. Die ersten Frauen sitzen vor ihren Hütten und bereiten das Frühstück vor. Immer wieder zieht der Duft frisch gebrühten Tees durch die Gassen. Fast wäre ich über einen schlafenden Hund gestolpert. Er hebt kurz seinen struppigen Kopf und mustert mich ungläubig. Offensichtlich hat er zu diesem frühen Zeitpunkt mit keinen Spaziergängern gerechnet.
Nach 15 Minuten steigen wir zum Bagmati-River ab. Ein fauliger Geruch klebt in der Luft und die Ufer des trüben Wasserlaufs gleichen einer Müllhalde. Während ein alter Mann in Hockstellung sein Morgengeschäft verrichtet, badet eine junge Mutter ihren Säugling. Gleich daneben schlafen schwarz gefleckte Schweine. Diese ekelerregende Szene schlägt mir auf den leeren Magen. Über einen schmalen Trampelpfad überqueren wir diese Kloake und sehen zu, dass wir Land gewinnen. Es ist furchtbar, wie diese ehemals romantische Stadt im Dreck erstickt.
Nach weitern 10 Minuten erreichen wir das Tor zur großen Treppe an der Ostseite des Swayambhunath-Hügels, um den sich Mythen und Legenden ranken. Erstaunt stellen wir fest, dass es hier jede Menge Frühaufsteher gibt. Fast könnte man denken auf einem Rummelplatz zu stehen. In einem orangefarbenen Meer, scharen sich mehrere Pilgergruppen um ihre brummelnden Vorbeter. Auch die ersten Händler haben ihre sakralen Handarbeiten auf kleinen Tischen ausgebreitet. Über all diesem Treiben schwingen die tiefen Töne eines esoterischen Liedes. Vorbei an mannshohen Gebetsmühlen und gelb-farbenen Statuen steigen wir die 365 Stufen der steilen Treppe hinauf. Durch einen Torbogen blicken wir auf die gekalkte Kuppel der Stupa, die man Garbha (Mutterleib) nennt. Die Kuppel soll den Ursprung dieses heiligen Ortes, eine Lotusblume schützen. Auch hier blicken wir wieder in die magischen Augen des Buddhas. Gläubige brennen Butterlampen an und auch die Quelle der tiefen Töne bleibt nicht länger verborgen. Entgegen meiner ursprünglichen Einschätzung wird hier kein Tonband bemüht. Ein hagerer Mönch sitzt mit geschlossenen Augen auf dem Steinboden und röhrt in ein kleines Mikrofon. Begleitet von Musikanten und einem ständig wechselnden Chor sorgt er für eine feierlich entspannte Stimmung. Im Strom der Pilger schleppt ein geschminktes Hindu-Mädchen ihre kleine Schwester über den Hof. Für einen kleinen Obolus lässt sie sich gerne ablichten. Die Stadt schläft unter einer rötlich schimmernden Dunstwolke.
Es ist schön hier und wir bleiben fast eine Stunde auf Swayambhunath. Die buddhistischen Klänge begleiten uns bis Thamel. Durch den frühen Marsch hungrig geworden, freue ich mich auf die Schlacht am Frühstücksbüfett. Die Stunden bis zu unserem ‚Check in' gegen 18.00 Uhr stehen zur freien Verfügung. Zeit genug für einen Ausflug nach Bhaktapur.Die altertümliche Stadt an der alten Handelsstraße nach Tibet liegt 15 km östlich von Katmandu. Zusammen mit Stephanie und Mike klettere ich in ein klappriges Taxi und schon wühlen wir uns durch die morgendliche Rushhour. Nach 45 Minuten halten wir vor den Toren der historischen Altstadt, die in den 70er Jahren umfassend restauriert wurde. Ärgerlich ist das stolze Eintrittsgeld (350 Rupien). Wie ich im Führer lese, wurde die Res-tauration des mehr als 1000 Jahre alten Stadtkerns im Rahmen des Bhaktapur Development Projects maßgeblich mit deutscher Aufbauhilfe finanziert. Es hat sich gelohnt, man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt. Die schrägen Fassaden uralter Häuser scheinen sich über die gepflasterten Gassen zu beugen. Obwohl die Sonne um die Mittags-stunde hoch steht, gibt es jede Menge schattige Nischen.
Auch das geschäftige Treiben der Ureinwohner, in der Mehrzahl Newar, passt in dieses altertümliche Szenario. Viele Menschen sind festlich geschmückt und bereiten sich auf ein bevorstehendes Hindu-Fest vor. Am Potters Square schwankt uns eine wilde Musikkapelle entgegen. Die vom Alkohol gezeichneten Bläser und Trommler scheinen gegeneinander zu spie-len. Zwei Schüler, ich schätze sie auf acht bis 10 Jahre, bieten sich als Fremdenführer an. Zu meinem Erstaunen sprechen beide relativ gut englisch und wie sich später herausstellt, können sie uns eine Menge über ihre alte Königsstadt erzählen. Rund um den Durbar Square wachsen auch hier die Pagoden zahlloser Paläste und Tempel in den Himmel. Auf dem wuchtigen Sockel des Nyatapola-Tempels legen wir eine Verschnaufpause ein. Am Ende der steilen Treppe hat man einen schönen Blick über den bunten Marktplatz Taumadhi Tol. Vorbei am Royal Palace folgen wir dem Durbar Square und steigen über eine buckelige Pflasterstraße zur Magal Tirtha Brücke ab. Unsere zwei Führer zeigen uns dort einen ominösen Festwagen auf riesigen Holzwalzen. Das tonnenschwere Gefährt, so erklären sie uns, soll am darauf folgenden Festtag von vielen Männern ins Zentrum der Stadt gezogen werden.
Dieses Spektakel können wir leider nicht mehr miterleben. Am Ende der zweistündigen Stadtführung belohnen wir unsere geduldigen Begleiter mit einer kalten Coke und einem Buch. Sie wünschen sich ein Oxford-Dictionary (nepali/english) und ich denke diese Investition lohnt sich auf jeden Fall. Am frühen Nachmittag kehren wir per Taxi nach Thamel zurück. Nach einer Siesta im kühlen Hotelzimmer ziehe ich ein letztes Mal los.
Maikel berät mich beim Kauf einheimischer Gewürze und buddhistischer Musik. Wir kommen ins Gespräch und versacken ein weiteres Mal im Garten des New Orleans. Obwohl wir uns von Anfang an fast blind verstanden, leben und fühlen wir doch grundverschieden. Vor mir sitzt ein Weltenbummler, ein Vagabund, der sein kurzweiliges Leben weitgehend selbst bestimmt. Ich hingegen lebe in meinem geordneten, zeitweise eintönigen Umfeld, trete nicht selten auf der Stelle und träume von der Freiheit. Wie heißt es doch in einem alten BAP-Song ...sach mir was du fürs bessre Läwe hälst - das vom Kettehund oder das von dem, der streunt und stiehlt... Aber so einfach ist die Unterscheidung nicht. Nein, es gibt noch jede Menge Raum dazwischen – Träume, Ziele und vor allem Menschen, die es wert sind zu bleiben.
Fast hätten wir die Zeit vergessen. Gerade noch rechtzeitig kehren wir in das Hotel zurück. Die Gruppe hat sich bereits vor der Eingangshalle versammelt und die Koffer stehen für den Abtransport bereit. Wir verabschieden uns von Sonam und Dorje. Nach dieser Tour, die nicht selten über eine Achterbahn der Emotionen führte, kann ich sie wie alte Freunde in die Arme schließen. Maikel betreut uns bis ans Terminal. Ich denke diesen leichtfüßigen und doch besonnenen Tourenführer kann man guten Gewissens weiterempfehlen.
Mit gemischten Gefühlen blicke ich nach Kathmandu zurück. Ich mag dieses unendlich weite Land und ich mag die bescheidenen, gastfreundlichen Menschen. Diese ‚Indianer' mit den neugierigen Augen, mit ihren gutmütigen, runden Gesichtern und dem offenen, glücklichen Lachen. In einem Wechselbad der Gefühle überfällt mich im Flieger eine lähmende Müdigkeit und die Strapazen der letzten Wochen fordern langsam aber sicher ihren Tribut. Ja, es war schön hier, aber jetzt ist es an der Zeit heimzukehren. ‚Om mani padme hum' – die Buddhisten glauben an die Kraft, die im Innern des Menschen entspringt. Auch die Freiheit wohnt in mir und nur dort kann ich sie finden – auf einem verschneiten Pass in Nepal, am Rande des Donaumooses oder in meinem Büro in Augsburg, das spielt letztendlich keine Rolle.
Im April 2003
Thomas Junker